Eisschnelllauf-Weltmeisterin über Erfolg: „Kaugummi raus!“
Gunda Niemann-Stirnemann wusste immer, was sie wollte: Sportlerin sein, die beste. Seit ihrer Pubertät ging sie diesem Ziel nach. Und erreichte es, gleich mehrfach.
Sie lebt als Eisschnelllauftrainerin in Erfurt und hat nur selten journalistischen Besuch. Hier empfängt sie einen frühen Bewunderer und einen, der mal als Junior ihr Schützling war: Gunda Niemann-Stirnemann, die Athletin, nach der zu Lebzeiten eine Eishalle benannt wurde.
taz am wochenende: Frau Niemann-Stirnemann, Sie sind eine berühmte Eisschnellläuferin, die für ihren Trainingsfleiß bekannt war. Wie geht es Ihnen heute?
Gunda Niemann-Stirnemann: Gut. Ich hatte Zeiten, in denen es nicht ganz so rosig ging, aber da boxt man sich durch. Als Leistungssportler ist man immer ein Kämpfer. Dass man nicht aufgibt. Manche schaffen es …
… und viele schaffen es nicht, oder?
So ist es. Und ich wünsche mir, dass es so viele wie möglich schaffen. Wenn man mal eine kleine Krise hatte, dass man da sagt: Jetzt ran, jetzt zeige ich es euch aber.
Manche werden im Moment einer Krise nervös. Was ist Ihr Modus, um das Gefühl von Krise zu bewältigen?
Ich analysiere: warum? Wieso kommt diese Situation auf mich zu? Wenn man diese Analyse für sich hat, sieht man seine Position und findet heraus: Was ist mein Stand als Mensch? Dann versuche ich klar zu entscheiden, was möglich ist. Das ist der Weg.
Was trieb Sie an, eine der erfolgreichsten Eisschnellläuferinnen der Welt zu werden?
Die rote Linie meines Lebens ist, dass ich mit Liebe und Leidenschaft Sport treibe. Wenn man Weltspitze sein wollte, so wie ich, musste man viel tun. Dann musste man sagen, ich möchte besser, fleißiger sein als die anderen. Das ist, glaube ich, auf allen Ebenen des Lebens so. Ob man Musik macht, gut zeichnen kann oder wie ich auf dem Eis Talent hat. Das sollte man nutzen. Und ich wollte es ausleben.
Wie fing es bei Ihnen, noch in der DDR, an?
Ich war eigentlich immer untalentiert. Man hat mir gesagt, ich sei zu klein für Volleyball. Zu klein, zu kräftig. Ich habe schrecklich geweint, weil ich Volleyballerin werden wollte. Ich liebte diesen Teamsport. Ich war die kleine Chefin, ein kleines Alphatier. Wir waren eine super Mädchengruppe. Man hat mir aber gesagt: Das wird nichts. Nicht genug Talent. Die suchten große Schlanke. Da ging für mich eine Welt zugrunde. Ich habe gesagt, Mama, ich möchte so gerne. Ich war gut! Ich wollte einfach immer gewinnen, immer gut sein.
Sie kamen dann auf eine Sportschule?
Die Frau
51, geboren als Gunda Kleemann in Sondershausen, Thüringen. Sie kam erst 1983, nach Stationen wie Volleyball, Schwimmen und Leichtathletik, zum Eisschnelllauf. Gunda Niemann-Stirnemann ist verheiratet und hat eine Tochter.
Die Eisschnellläuferin
Die ersten sportlichen Erfolge auf dem Eis feierte sie noch in der DDR, sie wurde dort Mehrkampfeuropameisterin. Der internationale Durchbruch erfolgte nach der Wende und bescherte wahnwitzige 98 Weltcupsiege, 19 Weltmeisterschaftssiege, drei Mal olympisches Gold, vier Silber- und eine Bronzemedaille. Außerdem stellte sie insgesamt 14 Weltrekorde auf den 3.000 und 5.000 Metern auf. Diese Erfolge brachten ihr auch die Wahl zur Eisschnellläuferin des Jahrhunderts ein. Die 2001 eröffnete Erfurter Eisschnelllaufhalle ist nach ihr benannt. Heute ist sie Trainerin im Nachwuchsbereich und trainiert unter anderem ihre Tochter Victoria, die schon mehrere nationale Titel bei den Juniorinnen gewinnen konnte.
Gast auf dem taz lab
Um 16.15 Uhr spricht Gunda Niemann-Stirnemann auf dem Marktplatz mit Jan Feddersen und Jann-Luca Zinser über das Thema „Ohne Fleiß kein Preis“.
Ja – noch in der Leichtathletik. Ich sollte mit Sprint anfangen, war aber am Start zu langsam. Im Vordergrund stand immer, dass ich eine gute Einstellung hatte. Das harte Arbeiten.
Mussten Ihre Eltern Sie antreiben?
Nein. Meine Mutter hatte gar keine Zeit dafür. Sie hatte einen Obst- und Gemüseladen. Ich war das fünfte Kind. Die hatte mit sich zu tun und hat das Geld nach Hause gebracht, wir sind selbstständig groß geworden und haben uns die Ziele selbst gesteckt. Ich wollte auf die Sportschule.
Können Sie mit dem Begriff „den inneren Schweinehund überwinden“ etwas anfangen?
Mein Begriff war eher: gnadenlos zu sich selbst sein. Ich hatte so tolle Trainer, die mir den Spaß nicht genommen haben, weil sie erkannt haben, dass ich will. Das muss man ja auch erst mal sehen. Ich hatte die eine Trainerin, die mich zur Weltspitze geführt hatte.
Was machte Ihre Trainerin gut?
Sie hatte die Gabe, dass sie, was man nie gesehen hat, sehr streng war. Dieses Sensible, was man rein optisch erwartet hätte, war das Zielstrebige, was sie verfolgt hatte. Sie wollte beweisen, dass sie eine gute Trainerin ist. Und sie hat es geschafft. Wir waren drei Mädchen, die sie an die Weltspitze geführt hat, Constanze Moser, Heike Warnicke und ich. Das hat man ihr nicht zugetraut.
Was zeichnete ihre Strenge aus?
Dass sie dabei auch nett war. Wir mussten ihre Vorgaben ja umsetzen. Mir tat das gut. Diese Zuversicht, die sie ausstrahlte, die empfand ich so: Wenn wir so hart arbeiten, werden wir das schaffen. Wir werden es ihnen beweisen.
Was?
Dass wir es können. Dass wir es gemeinsam können.
Dachten Sie manchmal: Jetzt muss ich schon wieder zum Training – und habe keine Lust. Oder kennen Sie dieses Gefühl nicht?
Doch, doch. Ich musste mich immer wieder überwinden. Ich dachte oft: Ich bin so müde vom Training, eigentlich könnte ich mal Freunde treffen. Das Verrückte ist: Genau an der Stelle solltest du weitermachen. Das ist der Punkt, warum du besser bist als die anderen. Die meisten meiner Mitstreiter, die nicht weitermachten, haben es nicht geschafft. Die trainierten genauso hart. Sie hatten aber dieses Gen nicht.
Gen?
Ich hatte das Glück, dass ich körperlich beste Voraussetzungen für meinen Sport mitbrachte. Ein Herzspezialist hat mir mal gesagt: Wenn dein Herz ein Mal schlägt, kriegst du so viel Blut in deinen Herzmuskel, dass deine Muskeln besser mit Sauerstoff versorgt sind. Das heißt nicht, dass ich ein riesiges Herz habe, aber ich habe ein gutes Herz. Eine gute Pumpe.
Junge Sportlerinnen und Sportler scheitern ja oft während der Pubertät.
Das kann ich als Trainerin genau beobachten, ich habe gerade 16-, 17-jährige Sportler. Die sind mittendrin. So mittendrin, wie ich es damals war. Ich finde, sie sollen sich nichts verbieten. Man liebt es, dass man heimlich Dinge tut, die vom Internat nicht erlaubt sind. Grundvoraussetzung bei mir war: Ich wollte Sport. Ich tanzte gerne, ging in die Disko. Wir sind jeden Samstag mit der Familie tanzen gegangen, das war Tradition. Mich hat das nicht abgelenkt. Ich wollte, was ich wollte.
Haben Sie über Ihre Tochter, selbst ja Eisschnellläuferin, schon mal den Begriff „chillen“ gehört?
Klar. Sie sagt: „Ma, chill mal!“
Darf Ihnen das eine sagen, die Sie im Sport trainieren?
Wir haben einen Kompromiss geschlossen: dass ich auf der Arbeit Trainerin bin und zu Hause Mama.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Würden Sie sie als ihr Coach auch mal so hart ran nehmen wie es einst Gaby Fuß mit Ihnen machte?
Nein, so geht das nicht mit allen. Es gibt Sportler, denen kannst du das direkt sagen: Kiste runter! Wenn du deinen Hintern nicht runter nimmst, wirst du nicht besser. Dann gibt es Sportler, die sensibler sind. Da musst du einen anderen Weg wählen. Siehst du deinen Fehler, erkennst ihn? Dass sie daneben einen guten Läufer sehen und selbst erkennen: Ah, ja. Ich muss ein Stückchen tiefer. Man kriegt ja auch mit, wen die jungen Leute gut finden. Wo die sagen, so möchte ich mal werden. Der läuft so schön. Ich war optisch nie ein schöner Läufer, aber ich war durch meinen Willen gut.
Man sah Ihnen an, dass Sie so schnell wie niemand sonst laufen wollen – das machte Sie schön.
Echt? Wenn ich jetzt Videos sehe, denke ich: Oh Gott, das kannst du gar nicht zeigen. Ich sage heute oft, das Entscheidende bei der ganzen Sache ist, dass ihr entscheidet, ob ihr so hart arbeiten wollt. Und wenn ihr so hart arbeiten wollt, dass ihr euch Ziele steckt und extrem hart arbeitet. Oh … ich bin böse, nicht? Mit Mittelmaß kriegst du es aber nicht hin.
Das ist wahr.
Ich bin ganz ehrlich: Ich hatte so eine Phase als Trainer, wo die gesagt haben, die ist zu hart zu ihren Sportlern. Es gibt immer wieder Diskussionen bei jungen Menschen, die sagen, das ist uns zu viel. Es ist aber so. Diese Bestätigung, wenn sie merken, dass die, die gut und hart gearbeitet haben, immer die Besten waren. Nicht, weil man sagt: Ihr müsst jetzt, ihr müsst jetzt. Nein. Die, die nicht aufgegeben haben, waren erfolgreich. Franziska Schenk, Constanze Moser, Patrick Beckert, meine Wenigkeit. Das spiegelt immer wieder, dass ich doch recht habe in meiner Philosophie. Ich bin nicht streng, ich bin eigentlich sehr liebevoll. Sie müssen es wollen. Mit Freude. Wenn sie es nicht wollen, werden sie es eben nicht schaffen. Erzwingen kann ich nichts.
Sie sprachen eben von sich als „meine Wenigkeit“. Warum so bescheiden?
Das ist für mich selbstverständlich. Weil ich weiß, was ich alles erreicht habe. Weil ich weiß, wie gut ich war. Ich kann Ihnen das wahrscheinlich nur sagen, weil ich auch Negativerfahrungen gemacht habe. Ich bin so dankbar, ich liebe meinen Job als Trainer.
Die als Sportlerin auch mal austeilte?
Obwohl ich knallhart war. Ich war ja eine knallharte Sportlerin. Wenn da mein Trainer am Rand des Eis’ Kaugummi gekaut hat und ich habe ihn nicht verstehen können, habe ich gesagt: Kaugummi raus, ich verstehe Sie nicht. Ich wusste, wenn ich diesen Kerl nicht an der Seite habe, der so väterlich und positiv denkend war, hätte ich das nicht geschafft. Der hat mir in den Hintern getreten. Schon der Satz: Los, komm. Heute! Auch wenn es regnet. Regenjacke an, zack. Wir machen los.
Sprechen wir über die Olympischen Spiele 1998 in Nagano, wo Sie über 5.000 Meter den Weltrekord vorlegten, ehe Claudia Pechstein kam und Ihre Zeit doch noch knackte.
Vier Hundertstel, genau. Aber das ist Sport, ’ne? Ich hatte ja meine Goldmedaille über die 3.000. Dafür war ich dankbar. Die 5.000 waren auch toll! Das erste Mal unter sieben Minuten. Ich habe mich feiern lassen. Ich wusste aber, jetzt kommt noch eine Claudia. Mir war ja klar, dass das ein Langstreckenspezialist ist …
… Sie meinen Pechsteins Trainer Joachim Franke?
Ja, da stand ein alter Fuchs am Rand. Der hat einen Plan aufgestellt und Claudia jede Runde motiviert: „So viel musst du noch, dann hast du sie.“ Das ist Sport. Wenn ich das Gold vorher nicht gehabt hätte, hätte ich mir wahrscheinlich in den Hintern gebissen und gesagt: So ein Mist aber!
Ist das eine DDR-Prägung? Diese lange Strecke der Selbstdisziplinierung und Leidenschaft.
Nein. Ich habe so viele verrückte Köpfe kennengelernt. Das hatte nichts mit der DDR zu tun. Ich kenne Kanadier, Holländer, Amerikaner. Das ist die persönliche Einstellung, welche Leidenschaft man hat. Und es sind die Voraussetzungen und das Talent. Ich kann klein und dick sein und arbeiten wie ein Weltmeister, werde es aber nicht schaffen. Ich habe schon so viele Sportler trainiert in meinem Trainerleben, die waren alle so fleißig. Ich wusste aber: Sie können es nicht alle schaffen. Dann ist es vernünftig, wenn man miteinander redet und ehrlich ist. Ich liebe das offene Wort. Dann sage ich immer: Sei nicht traurig, ich möchte lieber ehrlich sein. Trotzdem quälen sich viele weiter. Trotzdem machen sie es.
Wie hoch ist der Anteil an weltmeisterlicher Leistung? Von Fleiß und Handwerk? 80, 90 Prozent?
Ja, ich denke, wenn die 10 oder 20 Prozent Talent hat, bin ich dankbar, dass ich so einen Rohdiamanten habe. Wenn ich sehe, er oder sie läuft von Natur aus so schön Schlittschuhe und hat genau das, was man benötigt, dann ist er in jungen Jahren erfolgreich. Und dann fängt sie an mit 16, 17 Jahren – die eigentliche Arbeit, das Überwinden, das Aushalten.
Ihre Familie ist wahrscheinlich wahnsinnig stolz auf Sie.
Damals waren sie wahnsinnig stolz. Sie haben alles verfolgt, sind überall hin mitgefahren. Jetzt ist es so: Jeder macht seins. Ich bin jetzt Trainerin. Die anderen mussten auch hier und da was verändern nach der Wende, im Leben, beruflich. Sie schwärmen aber jetzt manchmal noch, wenn wir zusammensitzen mit der Familie, wie toll das war mit dem Wohnmobil nach Norwegen zu fahren. Meine Mama konnte irgendwann nicht mehr zugucken im Stadion: „Gunda, wir waren so aufgeregt.“ Und jetzt stecken wir mittendrin in unseren Leben.
Sie haben gesagt, in Ihrer Familie, mit Ihren vier älteren Geschwistern, waren Sie die einzige Sportlerin. Hat man sich da auch gefragt: Woher hat sie diesen Willen? Immer dieser Fleiß …
Was meine Mutti mir immer gepredigt hat: Bleib auf dem Teppich. Unsere Familie lebte am Wochenende von großen Küchentöpfen, den Rouladen und den Klößen, wo jeder für etwas verantwortlich war.
Was war das für ein Gefühl, als Ihr Name an der Eishalle in Erfurt stand?
Toll! Wow! Eine ewige Diskussion gab es vorher. Da hat man gesagt: Die …
… Sie!
… wollen wir in Erfurt behalten, die kriegt einen Job im Innenministerium, damit die weitermachen kann. Da habe ich da zwei Stunden morgens die Post gemacht und bin wieder gegangen und habe trainiert. Ich war den Menschen eigentlich dankbar. Und der Manfred Ruge …
… der ehemalige Oberbürgermeister von Erfurt …
… der war ein Fan. Den hat das gepackt, den hat das begeistert. Der hat aus der menschlichen Emotion heraus gesagt: Diese Halle trägt diesen Namen. Und hat mir sogar noch den Wunsch erfüllt: Gunda Niemann-Stirnemann. Da wurde auch diskutiert. Warum macht man so einen langen Namen? Und ich in meiner Einfachheit habe gesagt: Ich war schon mal verheiratet. Mein damaliger Mann ist mit daran Schuld, dass ich so erfolgreich war. Er hat mich unterstützt auf meinem Lebensweg. Und den will ich mit da drauf haben. Und dann hat er das gemacht.
Wie ist das, heute jeden Tag daran vorbeizulaufen?
Immer wieder schön. Es ist nicht so, dass ich das jeden Tag zelebriere, aber manchmal erwische ich mich dabei, dass ich denke: ach, schön.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Kochen für die Familie
Gegessen wird, was auf den Tisch kommt
Angriffe auf Neonazis in Budapest
Ungarn liefert weiteres Mitglied um Lina E. aus
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Im Gespräch Gretchen Dutschke-Klotz
„Jesus hat wirklich sozialistische Sachen gesagt“