Oh weh, es kippt

Der Eisverlust im Nordosten Grönlands ist sechsmal höher als angenommen. Brisant, denn so ist das Weltklimasystem in Gefahr

Im Eisschrank dieser Eisforscher in Grönland ist es noch kalt, draußen nicht mehr Foto: Fo­to: Lukasz Larsson Warzecha/getty

Von Nick Reimer

Der Zachariae Isstrøm ist ein Gletscher im hohen Nordosten Grönlands, im größten unbewohnten Nationalpark der Welt. „2012 ist seine Barriere zum Meer hin weggebrochen, seitdem ergießt sich ein Eisstrom ins Meer“, sagt Angelika Humbert, Professorin für Eismodellierung. Für das Alfred-Wegener-Institut für polare Meeresforschung war sie gerade in einem internationalen Forschungsteam, das untersucht hat, wie schnell der Abschmelzprozess vonstatten geht. Das Ergebnis, in dieser Woche im Fachblatt Nature veröffentlicht, hat Humbert überrascht: „Wir unterschätzen, was passiert!“

Bislang war die Wissenschaft davon ausgegangen, dass der Zachariae-Eisstrom den globalen Meeresspiegel um 1,5 bis 3 Millimeter bis Ende des Jahrhunderts ansteigen lässt. Das sagten zumindest die Klimamodelle für die Region voraus. Humbert und ihr Team werteten dagegen Daten eines Messnetzes am nordostgrönländischen Eisstrom aus. Sie kommen zu dem Schluss, dass es 13 bis 15 Millimeter werden, allein aus diesem einen Eisstrom. „Der Eisverlust bis zum Ende des Jahrhunderts ist also sechsmal größer, als die Klimamodelle bislang prognostiziert haben“, sagt die Profes­sorin.

Das ist brisant, denn der grönländische Eisschild ist eines jener Kippelemente im Weltklimasystem, die – einmal angeschoben – nie wieder gestoppt werden können. In den Spitzen ist der Eispanzer 3.300 Meter hoch. Wenn er anfängt zu tauen, fällt die Oberfläche nach unten in immer wärmere Schichten. Ein Forscherteam des Geologischen Dienstes Dänemarks und Grönlands (GEUS) war im August zum Ergebnis gekommen, dass der Eisschild bereits aus dem Gleichgewicht geraten ist, selbst wenn wir sofort alle Emissionen weltweit stoppen würden – 110.000 Kubikkilometer Eis tauen danach unwiederbringlich ab und heben den weltweiten Meeresspiegel um mindestens 27 Zentimeter an.

Der Sommer 2012 war besonders warm auf Grönland, Me­teo­ro­logen gehen davon aus, dass sich durch die Klimaerhitzung derartige Sommer häufen werden. Die GEUS-Forscher haben einen solchen Sommer als Maßstab für die Entwicklung genommen: Bis Ende des Jahrhunderts würden dann 10 Prozent der grönländischen Eisfläche unumkehrbar verloren gehen, der Meeresspiegel um 78 Zentimeter steigen. Städte wie New York mit mehr als tausend Kilometer Küstenlänge sind dagegen genau so wenig zu verteidigen wie Bangkok, Alexandria, Basra oder Jakarta. Taut das gesamte Gletschereis auf Grönland ab, steigt der Meeresspiegel weltweit um mindestens 7 Meter an. Nicht nur das: Andere Kippelemente werden ausgelöst, ein Zusammenbruch des Golfstromes etwa, also jener Meeresströmung, die Wärme aus der Karibik nach Europa transportiert.

„Ich war im Juni dort, überall taute es“

Angelika Humbert, Professorin für Eismodellierung

Auch wenn es gelänge, die globale Temperatur um nicht mehr als 1,5 Grad über das vorindustrielle Niveau steigen zu lassen – wovon ExpertInnen derzeit nicht ausgehen: Selbst dann würden mehrere Klima-Kippelemente ausgelöst, wie eine neue Untersuchung zeigt. Ein Kollaps des Grönlandeises gehört genauso dazu wie ein Zusammenbruch der westantarktischen Eismassen und ein abrupter Verlust des arktischen Meereises. „Wir sehen bereits Anzeichen für eine Destabilisierung“, erklärt Hauptautor David Armstrong McKay vom Stockholm Resilience Centre.

Aktuell liegt die globale Durchschnittstemperatur bereits 1,15 Grad über dem vorindustriellem Niveau; das, was die Staaten der UNO als „Freiwilligen Klimaplan“ gemeldet haben, würde dafür sorgen, dass die Globaltemperatur um mindestens 2,8 Grad steigen wird. Lässt sich ein Abschmelzen des Grönlandeises also noch verhindern? Kippt es bereits? „Ich war im Juni dort, überall taute es“, sagt Angelika Humbert. „Es war schwierig, in dem ganzen Schneematsch eine Stelle zu finden, wo wir die Messgeräte aufstellen konnten.“ Trotzdem ließe sich die Frage nicht eindeutig beantworten. Im Polarwinter, wenn monatelang keine Sonne scheint, friere es dort wieder.

„Wenn die Temperaturen weiter ansteigen, werden weitere Kipppunkte möglich“, erklärt Forscher Armstrong McKay. Und dann sagt er etwas in Richtung der Klimadiplomaten auf der aktuellen COP 27 in Ägypten: „Die Wahrscheinlichkeit des Überschreitens von Kipppunkten kann durch ein rasches Senken der Treibhausgas­emissionen verringert werden, und zwar sofort.“