Eis, Schnee und Knochenbruch: Räummuffel sollen zahlen
Wegen verletzter Streupflichten wollen Krankenkassen die großen Kommunen verklagen: In Hamburg und Bremen sollen Regressansprüche geltend gemacht werden. Alle Knochenbrüche werden untersucht.
Auf die Stadt Hamburg kommen Regressansprüche in Millionenhöhe zu - weil sie nach Auffassung mehrerer Krankenkassen im letzten Winter ihrer Streupflicht nicht ausreichend nachgekommen ist. Das kündigten die Deutsche Angestellten-Krankenkasse (DAK) und die Barmer Ersatzkasse (BEK) gegenüber der taz an. "Nach dem jetzigen Stand haben wir bereits 20 Fälle der Stadt gemeldet", sagt BEK-Sprecher Wolfgang Klink. Die Allgemeine Ortskrankenkasse (AOK) Rheinland-Hamburg erwägt solche Schritte bislang noch nicht - vorerst. "Wir machen keine Ansprüche geltend", sagt AOK-Sprecherin Renate Becker. "Es hat bei uns keine zusätzlichen Fälle gegeben."
Es war seit Jahren der härteste und längste Winter im Norden. Heftiger Schneefall und nächtlicher Frost sorgten für spiegelglatte Fußwege - und zeitweise wurde dagegen kaum Spürbares getan. Wer mancherorts in Hamburg eine Straße überqueren wollte, musste spätestens auf der ersten Verkehrsinsel damit rechnen, zu stürzen. Der Ausstieg aus dem Bus wurde zum Roulettespiel, ebenso der Gang zum Supermarkt ein paar Straßen weiter - längst nicht nur für ältere Menschen. Und selbst auf dem Vorzeigeboulevard am Hamburger Jungfernstieg, im Herzen der Stadt, kam es zu so manchem Fußbruch.
Wie hoch die Zahl der Regressfälle werden wird, ist unklar: Noch haben nicht alle Kliniken ihre Kosten abgerechnet. Zudem seien die Unfallmeldungen aus dem Februar noch nicht alle ausgewertet worden. Klar ist aber bereits, dass in Hamburg die Zahl der Knochenbrüche allein bei DAK-Versicherten im Januar um 58 Prozent anstieg. "Besonders auffällig war die Zahl der Beinbrüche", erklärt DAK-Landeschefin Regina Schulz - "davon gab es 102 Prozent mehr als im schneefreien Januar 2009."
Sollte die Stadt ihrer Streupflicht nicht nachgekommen sein, muss sie eventuell die Behandlungskosten tragen. "Da sitzen die Juristen dran", sagt DAK-Sprecher Gerd Reinartz. Dass das Durchsetzen etwaiger Ansprücher schwierig werden kann, ist den Kassen klar: Sie tragen die Beweislast.
Experten zufolge war es der härteste Eiswinter seit 31 Jahren: Mehrere Wochen lang sorgten ausgeprägte Minustemperaturen für glatte und vereiste Gehwege -
die Krankenkassen verzeichneten Rekordzahlen an Knochenbrüchen.
Um das Dreifache stieg bei Glatteis die Zahl der Frakturen an: Allein die DAK verzeichnete in Hamburg im Januar 303 Knochenbrüche - im Vorjahresmonat waren es 191 gewesen.
4.000 Euro kostet ein Bruch des Sprunggelenks eine Krankenkasse im Durchschnitt. Eine Fraktur der Hüfte schlägt demnach mit 7.000 Euro zu Buche. Ein "normaler" Fuß- oder Armbruch hat nach Einschätzung der AOK Kosten von etwa 3.000 Euro zur Folge.
"Der Fall muss offenkundig sein", sagt BEK-Sprecher Klink. Deshalb müssten zum Teil die Katasterämter bemüht werden, um klar zu bekommen, ob überhaupt die Stadt verantwortlich war oder nicht doch ein privater Grundstückeigentümer. Sei jemand beim Überqueren der Straße gefallen, herrsche wiederum eine andere Rechtslage, sagt Klink.
Auch müssen die Kassen beweisen, dass ausschließlich die Vernachlässigung der Streupflicht für Sturz und Beinbruch ausschlaggebend waren - und nicht noch andere Faktoren eine Rolle gespielt haben. "Das ist", sagt Klink, "oft eine schwierige Frage."
DAK-Sprecher Reinartz ist sich aber sicher, dass zumindest in einigen Fällen die Schuldfrage klar zu Gunsten der Kasse geklärt werden könne. "Das verfolgen wir straight." Wenn etwa ältere Menschen mit guten Schuhwerk auf vereisten öffentlichen Weg gestürzt sind, und es dafür Zeugen gibt, müsse das möglich sein, sagt Reinartz. "Wer jedoch mit Stöckelschuhen oder hohen Absätzen auf einer Eisfläche ausgerutscht und sich den Fuß gebrochen hat - da stehen die Karten schlecht." Die Prüfung aller Regressfälle, schätzt Klink, dürfte bis Mitte des Jahres dauern.
Auch für Bremen haben Krankenkassen angekündigt, die Stadt wegen der Behandlungskosten von Glatteis-Opfern finanziell in die Pflicht zu nehmen. Hier waren insbesondere in zahlreichen Nebenstraßen Menschen gestürzt, ebenso auch auf dem Metallstreifen zwischen Gehweg und Straßenbahnschienen. Irgendwann wurden dann zwar Schilder aufgestellt, die vor der Rutschgefahr warnten - gestreut aber wurde nicht. In mindestens 25 Fällen haben in Bremen die Kassen bereits Regress geltend gemacht. Auch hier geht es um eine Summe von 100.000 Euro allein für den Januar dieses Jahres.
"Es geht um viel Geld", sagt DAK-Sprecher Gerd Reinartz offenherzig. "Es geht nicht um ein paar Euro, sondern um Millionen, die wir für unsere Versicherten zurückholen wollen."
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Bis Freitag war er einer von uns
Elon Musk und die AfD
Die Welt zerstören und dann ab auf den Mars
Magdeburg nach dem Anschlag
Atempause und stilles Gedenken
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Biden hebt 37 Todesurteile auf
In Haftstrafen umgewandelt
Anschlag von Magdeburg
Aus günstigem Anlass