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■ Einladung zur politischen Debatte: Eine parteiübergreifende Initiative präsentiert in der taz fachpolitische Konzepte als Angebote für öffentlichen politischen StreitNull Bock auf Zukunft: Jugendverdrossenheit der Politik

Null Bock auf Zukunft: Jugendverdrossenheit der Politik Thema 2: Jugendpolitik

ede Gesellschaft hat die Jugendlichen, die sie verdient. Alle Äußerungsformen von Jugendlichen müssen im Spiegel einer Gesellschaft betrachtet werden, deren Machthaber im Begriff sind, sich von diversen Prinzipien des Sozialstaats zu verabschieden. Viele Sparmaßnahmen treffen vor allem die junge Generation und deren Zukunftsperspektiven. Ein neuer und neuartiger Generationenvertrag ist nicht in Sicht.

Der Anteil junger Menschen an der deutschen Gesamtgesellschaft wird immer kleiner. Bald können Jugendliche als Randgruppe bezeichnet werden. Ihre Zusammensetzung ist so heterogen wie die der Gesellschaft. Hinzu kommt, daß „Jugend“heute keine klar abgrenzbare Lebensphase mehr ist. Mit 18 Jahren ist die Volljährigkeit erreicht, und zugleich dauert die Jugendphase einzelner junger Menschen zwangsweise weitaus länger.

Medienberichte über Skandale und über negativ zu wertende Handlungen in der Regel männlicher Jugendlicher prägen weitgehend das Bild „der“heutigen Jugend – im Gegensatz zu „den“adretten jung-dynamischen Erwachsenen. Die geschilderten Ereignisse sind ernste Signale; doch die Reaktion der Medien trägt nicht zur Konfliktlösung bei. Jugendliche werden aufgrund einzelner lokaler Vorkommnisse überwiegend negativ und als mit Defiziten behaftet dargestellt und bewertet. So wird verallgemeinert, und es entsteht vorschnell eine Meinung über „die“Jugend.

Jugend erscheint der Politik im Großen und Ganzen als ein lästiges Anhängsel, mit dessen Auffälligkeiten sie sich leider immer wieder neu befassen muß: Demonstrationen, Besetzungen, Zerstörungen, neue Formen von Rechtsradikalismus ... .

Mehr Respekt für die Jugend

Von diesen ebenso furchterregenden wie wirklichkeitsfremden Szenarien wollen wir uns verabschieden. Aus unserer Sicht ist es erforderlich, den Blick auf die junge Generation zu ändern: „Jugend verdient“– wie es am 18.1.98 in einem Leserbrief im WK hieß – „entschieden mehr Achtung und Respekt“.

Ungeschrieben bleiben nämlich Berichte über das Engagement, über viele Initiativen von Jugendlichen zum Erhalt der Überlebensbedingungen, zur Schaffung jugendgerechter Räume usw.. Die Tatsache etwa, daß sich im vergangenen Jahr soviele Jugendliche wie nie zuvor für das Freiwillige Soziale oder Ökologische Jahr angemeldet haben und viele nicht genommen werden konnten, erscheint der Tagespresse nicht erwähnenswert.

Jugendpolitik muß an den Stärken der nachwachsenden Generation ansetzen. Zur Zeit orientiert sie sich an deren Defiziten: Nur wer krank, gefährdet oder verhaltensauffällig ist, darf derzeit mit öffentlichen Mitteln gefördert werden. Bewilligungen erfolgen nach dem Maß der Gefährdung. Diese Selbstverständlichkeit gibt es – aber keine von Achtung vor den Leistungen Jugendlicher geprägte und diese Leistungen unterstützende Jugendpolitik.

Jugend braucht Identifikation

Jugendpolitik muß Jugendlichen Identifikationsmöglichkeiten bieten. Sie muß kleinräumig ansetzen und sich ständig verändern und anpassen; denn was vor zwei Jahren geil war, ist heute absolut uncool. Politik kann vor allem nicht einfach für Jugendliche gemacht werden, sie muß von ihnen selbst gestaltet werden. Dafür müssen vielfältige Mitwirkungs- und Mitentscheidungsformen erprobt werden; sie müssen die unterschiedlichen Interessen von Mädchen und Jungen aufnehmen und berücksichtigen.

Voraussetzung für alles andere ist die unmittelbare Beteiligung der Jugendlichen an der Gestaltung ihres Lebensumfeldes, der Nachbarschaft. Jugendpolitik kann nicht zentralistisch funktionieren, sondern muß sich vor Ort entwickeln und gemacht werden. Projekte müssen zeitlich befristet, überschaubar und erfolgversprechend sein. Jugendliche müssen die Möglichkeit haben, zusammen mit anderen Generationen und Nationalitäten ihr Umfeld zu gestalten und zu verändern: öffentliche Plätze, Schulen, Freizeitheime, Nachbarschaftseinrichtungen usw...

Jugendliche denken durchaus über andere Nutzungsformen nach. Wenn sie im Park abhängen, kann man sie auf das nächste Jugendfreizeitheim verweisen – oder aber „ihren“Platz ihren Bedürfnissen entsprechend in gemeinsar Arbeit umgestalten. Nachbarn erleben auf diese Weise arbeitende Jugendliche; Fähigkeiten von Jugendlichen werden sichtbar und gefördert. Gefragt wird nicht mehr nach Nationalität oder Alter, sondern nach konkreten Fertigkeiten.

Politik muß Projekte fördern, in denen Jugendliche mitentscheiden können. Aus der Verantwortung Jugendlicher für ihr unmittelbares Umfeld kann sich dann Verantwortungsbereitschaft für künftige Aufgaben in Kommune und Gesellschaft entwickeln.

Betreten Verboten!

Jugendliche werden mit vielen verschlossenen Türen und mit Verboten konfrontiert, die nicht einsichtig sind und die sie folglich – wie Erwachsene auch – durchbrechen. Warum können z.B. Rasenflächen zwischen Wohnblocks, die im Besitz größerer Wohnungsbaugesellschaften sind, nicht Räume sein, die Jugendliche sich aneignen und gestalten? Eine erfolgreiche Form der Bekämpfung des Vandalismus an Gebäuden einer großen Wohnungsbaugesellschaft in Hamburg war z.B. die Anstellung eines Sportpädagogen, der mit den Jugendlichen „Freiflächen“zur Basketballarena umfunktioniert hat und für Jugendliche als Ansprechpartner vor Ort präsent war.

Nachbarschaftseinrichtungen und Jugendfreizeitheime sind gefordert. Ihre Aktivitäten müssen sich auf das gesamte Lebensumfeld der Jugendlichen richten. Jugendliche können in diesen Einrichtungen ihre unterschiedlichen Fähigkeiten, handwerklichen und technischen Kenntnisse und Erfahrungen in den Alltag einbringen. Sie müssen ihren Platz als Verantwortliche und nicht als betreute Gruppe finden.

Jugendliche brauchen Räume, Mädchen und Jungen jeweils für sich und auch gemeinsam, und sie brauchen kontinuierliche persönliche Kontakte und Verbindlichkeiten. Damit ist nicht gemeint, daß in jedem Stadtteil ein Jugendfreizeitheim mit drei PädagogInnen vorhanden sein muß. Die Jugendlichen müssen vielmehr selbst befragt werden und entscheiden können, was der jeweils für sie angemessene Raum ist.

Jugendliche brauchen Identifikationsfiguren beiderlei Geschlechts in ihrem Lebensumfeld, die gemeinsam mit ihnen Veränderungen organisieren und durchsetzen. Der universelle Sozialarbeiter ist out; SpezialistInnen mit konkreten Fähigkeiten im Kultur- und Sportbereich werden gebraucht. Trägerübergreifende Projekte beleben eine Stadtteilkultur. Auf jeden Fall braucht eine neue Jugendpolitik auch eine neue – und bessere – Förderpolitik.

Sicherheit vor jugendlicher Gewalt

Manchmal hat man den Eindruck, daß alle (männlichen) Jugendlichen aus bestimmten Stadtteilen als potentiell kriminell gelten. Die Erwachsenen rufen nach mehr Polizei, nach härteren Strafmaßnahmen, nach Herabsetzung der Strafmündigkeit und nach Sicherheitsverwahrung. Das „Haus des Jugendrechts“– eine neue Lösung?

Welche Partizipationsformen gibt es eigentlich für „Störenfriede“?

Und was sagen die Jugendlichen selbst?

Nahezu völlig aus dem Blick geraten die Opfer unter den Kindern und Jugendlichen. Die Täter stehen im Zentrum; die Situation der Opfer wird ignoriert und verschwiegen. Nur selten gibt es Versuche, Kompetenzen zur Konfliktlösung unter Kindern und Jugendlichen selbst zu entwickeln, zu begleiten und zu unterstützen; genau das ist aber nötig.

Nach wie vor hat physische Gewalt seitens Jugendlicher ein Geschlecht. Dennoch ist etwa die Durchführung von Selbstbehauptungskursen für Mädchen weit von einer Selbstverständlichkeit, d.h. von einem Regelangebot in den Schulen entfernt. Die gegen sich selbst gerichtete Gewalt, die zunehmenden Eßstörungen bei Mädchen beispielsweise, werden verschwiegen. Ein jugendhilferechtlich verankerter Präventionsauftrag könnte anders umgesetzt werden, wenn er denn ernst genommen würde.

Die „neue“Bildungskatastrophe

Nach Angaben von Handwerks- und Handelskammern ist die „heutige Jugend“kaum noch ausbildungsreif und –fähig. Ein Sündenbock für stagnierendes wirtschaftliches Wachstum und zunehmende Arbeitslosigkeit ist gefunden: Die mangelnde Qualifikation junger deutscher SchulabgängerInnen! Noch sind die kids in Deutschland nicht „EU-fit“.

Doch diese Einsicht führt keineswegs zur notwendigen Steigerung der Investitionen in den Bildungsbereich (wie etwa in den 70er Jahren). Es besteht vielmehr ein relativ großer gesellschaftlicher Konsens, daß Druck auf die Schulen und Universitäten ausgeübt werden muß, damit die Leistungen gesteigert werden. Zugleich werden Schulstandorte geschlossen, eine BAFöG-Reform hat nicht stattgefunden, die Lehrerschaft ist überaltert, und die Schulen verwahrlosen zunehmend. Wer wundert sich angesichts dieser Tatsachen noch über die streikenden Studentinnen und Studenten?

Arbeit als sinnstiftendes Element?

In der Schule sollen Jugendliche lernen, was fürs Leben gut ist. Ihnen wird nach wie vor vermittelt, daß Leistung und entsprechende Noten gute Chancen für Beruf, Erfolg, Verdienst und gutes Leben erwarten lassen. Daß viele junge Menschen lernen müssen, sich auf ein Leben ohne dauerhafte bezahlte Arbeit einzustellen, ist dagegen noch kein Thema für Schule.

Wieviele Jugendliche sind über die statistisch registrierten Lehrstellenlosen hinaus ohne Ausbildungsplatz? Der aktuelle Lehrstellenmangel ist schon länger prognostiziert worden. Dennoch bestehen bis heute keine vernünftigen Auffanglösungen; einzelne vorbildliche Initiativen haben keine Nachahmer gefunden.

Erforderlich ist vor allem auch eine Ausbildungsoffensive für Töchter und Söhne aus Migrantenfamilien. In der Pflicht sind hier alle Einrichtungen, die durch Steuern oder Pflichtbeiträge von MigrantInnen mitfinanziert werden wie z.B. der Öffentliche Dienst, die Banken und die Versicherungen.

Die Vielzahl der Warteschleifen, in denen sich junge Menschen aufhalten, wenn sie keine ausbildungsadäquate Arbeit oder keinen Job finden, täuscht über die Dramatik der Jugendarbeitlosigkeit hinweg. Der permanente strukturelle Ausgrenzungsprozeß junger Menschen hat noch nicht dazu geführt, daß über neue Formen einer nachwuchsorientierten Arbeitsmarktpolitik debattiert wird.

Ohne Moos nichts los

Ohne Geld gibt es keine Jugendpolitik. Solange sich zwanzig engagierte Menschen im Jugendhilfeausschuß stundenlang über die Vergabe von 6.000 Mark streiten müssen, werden die Ansätze sich nicht verwirklichen lassen.

Der sich in der aktuellen Sparpolitik abzeichnende stetige Abbau von Leistungen für die jüngere Generation – ein gutes Beispiel hierfür ist der Wegfall der Finanzierung von Zahnersatz für alle, die nach 1979 geboren sind – läßt uns für die Einführung einer „Kinder- und Jugendpflegeversicherung“als Pflichtversicherung für alle plädieren, um bestimmte Standards in den Lebensbedingungen von Kindern und Jugendlichen zu garantieren und finanzierbar zu machen.

Neue Generationenverträge

Die Beispiele der strukturellen Ausgrenzung Jugendlicher machen deutlich, daß wir dringend Generationenverträge verschiedener Art entwickeln müssen. Hierfür sind Verantwortung und Kompetenzen vieler Politikbereiche gefragt. Jugendpolitik darf nicht als Ressortpolitik betrachtet werden. Angesichts der Zukunftsperspektiven und –probleme unserer Gesellschaft müssen sich alle Politikbereiche den heutigen Aufgaben der Sicherung von Überlebensbedingungen nachwachsender Generationen stellen. Jugendpolitik muß Querschnittspolitik werden.

Gundula Lösch-Sieveking

Ralf Jonas

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