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Eine unerwünschte Chronik

Der litauische Journalist Grigorij Schur erlebte die Ermordung der Juden des Wilnaer Ghettos. Sein geheimer Bericht über die Geschehnisse wurde erst vor wenigen Jahren publiziert. Ein Hausbesuch bei seiner Tochter

von THOMAS MOSER

Am 22. Juni 1941 begann die deutsche Wehrmacht mit ihrem Einmarsch in die Sowjetunion und die sowjetisch besetzten Länder in Osteuropa. Am 24. Juni erreichte sie die litauische Hauptstadt Wilna. Zu diesem Zeitpunkt lebten dort fast achtzigtausend Juden. Bereits in den ersten Wochen erschossen die Nazis tausende von ihnen. Für die Übrigen wurde mitten in der Stadt ein abgesperrter Bezirk eingerichtet, ein Ghetto.

Unter ihnen befand sich auch der Journalist Grigorij Schur mit seiner Frau, seiner Tochter und seinem Sohn. Schur begann mit geheimen Aufzeichnungen, die er bis zu seinem Abtransport 1944 führte. Über fünfzig Jahre nach dem Tod des Autors wurden diese Aufzeichnungen erstmals veröffentlicht, 1997 in den Niederlanden, 1999 in Deutschland. Die Verspätung ist Teil der Geschichte des Buches.

Ein kleines Reihenhaus in der israelischen Stadt Petah Tikwa nahe Tel Aviv. Hier wohnt Miriam Povimonskaja-Schur, Grigorij Schurs Tochter, die einzige in ihrer Familie, die den Holocaust überlebt hat. Sie ist 75 Jahre alt, eine freundliche Person mit wachem, offenem Gesicht. Sie wohnt hier mit ihrem Mann Jakob.

Miriams Cousin Wladimir Porudominski ist ein paar Tage zu Besuch da – der russische Schriftsteller und Herausgeber von Schurs Buch lebt in Köln. Wenn sie unter sich sind, reden sie Russisch, mit dem Journalisten aus Deutschland sprechen sie Deutsch. Wladimir lernte die Sprache von seinem Vater, Miriam hat als Kind in Litauen Jiddisch gesprochen.

Am Tag des deutschen Einmarsches in Wilna wurden im Garten der Franziskanerkirche die ersten Juden und sowjetischen Soldaten erschossen. Die Schurs wohnten direkt gegenüber und konnten die Hinrichtungen mit eigenen Augen verfolgen. Der Journalist Grigorij Schur fing an zu schreiben. Von da an wurde er zum Chronisten der Ereignisse im Ghetto und in der Stadt. Er erlebte, beobachtete, hörte, erfragte und schrieb nieder, so oft er konnte, immer in der Gefahr, entdeckt zu werden.

Die Ghettos waren nichts anderes als große Gefängnisse zur Vorbereitung der allmählichen Ermordung der Juden. Anfang September 1941 lebten in Wilna etwa vierzigtausend Juden in zwei Ghettos. „Am 15. September wurden 1.500 Menschen weggebracht“, notierte Grigorij Schur. Zwei Wochen später folgten 2.300 Menschen, dann zweitausend, am 16. Oktober dreitausend, kurz darauf 1.300. Damit war das kleinere der beiden Ghettos aufgelöst.

Familie Schur verbrachte die ersten Monate im Hauptghetto. Dann gelang es Verwandten, sie in einen Block außerhalb des Hauptghettos zu bringen, in dem vor allem kriegswichtige Arbeiten durchgeführt wurden. Grigorij sortierte Kleidung von Gefallenen, Miriam und ihre Mutter besserten die Stücke aus, die anschließend wieder an die Front gebracht wurden. Sie teilten sich mit zwanzig weiteren Personen eine Zweizimmerwohnung. Miriam Povimonskaja-Schur holt ein altes Foto aus ihren Unterlagen hervor, das von außen die drei Fenster der Wohnung zeigt. Sie kann alle Bewohner noch namentlich aufzählen: „Meiner Mutters Schwester und ihr Mann und zwei Kinder, Oma Nechama, Omas Schwester, die Familie der Kommissarows, Tanja, David, Miroscha ...“

Die Deutschen übten ihr Besatzungsregime mit Hilfe von Kollaborateuren aus. Die Massenerschießungen der Juden wurden meist litauischen, polnischen oder ukrainischen Soldaten übertragen. Auch die Kontrolle des Ghettos wurde von den Nazis delegiert. Das Sondergebiet hatte seine eigene Hierarchie und Führungsschicht mit Ghettovertretern, Amtsleitern, Polizisten und Kolonnenführern. Zum Ghettoleiter machten die Nazis den litauischen Juden und ehemaligen Armeehauptmann Jakob Gens.

Das Leben der Funktionsträger wich etwas ab von dem der anderen eingeschlossenen Juden. Während es verboten war, Lebensmittel ins Ghetto zu bringen, und die Bewohner oft hungern mussten, hielt diese Ghettoelite bisweilen regelrechte Gelage ab, mit Gänsebraten und Wodka. Als Gegenleistung mussten die Vorgaben der Nazis erfüllt werden. Und die bestanden vor allem in der stets aufs Neue verlangten Auslieferung von bestimmten Mengen an Ghettobewohnern, die dann zur Hinrichtung gebracht wurden – eine Aufgabe, die im Laufe der Zeit immer selbstverständlicher und brutaler umgesetzt wurde.

Einmal wollte die Gestapo fünfhundert Kinder ausgeliefert bekommen. Ghettoleiter Gens verhandelte mit den Nazis und bot ihnen anstelle der Kinder hundert Alte und Kranke an. Die Nazis willigten ein. Die Ghettopolizei lieferte die Alten und Kranken an die Deutschen aus. Grigorij Schur schienen die Worte zu fehlen; er kommentierte den Vorgang mit der Frage: „Was bedeutet das eigentlich?“

Miriam und Wladimir sind Realisten. „Das Ghetto“, sagt Wladimir, „ist ein Weltmodell. Aber in einer extremen Situation, nichts anderes. Das ist Existenzialismus als Tatsache.“ Darum sei das Buch seines Onkels ja besonders interessant, fügt er hinzu. Und Miriam sagt: „So haben die Deutschen ihre Politik geführt: Teilen und Herrschen!“ Aber Miriam betont, dass sie im Ghetto auch das Gegenteil erlebt hat. Sie erzählt von Omas, die freiwillig mitgingen, als Kinder abtransportiert wurden, um sie nicht allein in den Tod gehen zu lassen. Es gab beides im Ghetto, den Verrat und die Aufopferung.

Aus dem historischen Abstand betrachtet, liefert das Ghettoprotokoll des Grigorij Schur Erkenntnisse, wie Faschismus funktioniert und mit welchen politischen und psychologischen Techniken die Nationalsozialisten die Vernichtung des europäischen Judentums organisierten. Zur unendlichen Diskussion darüber, unter welchen Bedingungen es möglich gewesen wäre, den Holocaust aufzuhalten, ob und welchen Widerstand Juden überhaupt hätten leisten können, gehören auch die schmerzlichen Tatsachen über die jüdische Mittäterschaft. Schur erkannte, dass die Taktik von Gens, den Deutschen immer wieder aufs neue hunderte und tausende von Menschen auszuliefern, um die Übrigen zu retten, verfehlt war. Der Ghettoleiter habe es nicht nur versäumt, die Juden im Ghetto für den Kampf gegen den Feind vorzubereiten, er habe sie sogar geschwächt.

Im September 1943 endete die Geschichte des Wilnaer Ghettos. Ghettoleiter Gens wurde vom Chef der Gestapo, Rolf Neugebauer, eigenhändig erschossen, und die letzten sechstausend Ghettoinsassen wurden zur Hinrichtung gefahren. Mehr als siebzigtausend Juden hatten die Nazis in zwei Jahren ermordet. Lediglich die dreitausend im Arbeitsblock hatten bis zu diesem Zeitpunkt überlebt. Dort schrieb Schur auch seine Aufzeichnungen nieder, verborgen in einem Winkel der Werkstätte, abends im Dunkeln in der Wohnung oder auf dem Klo. Eine litauische Freundin und Untergrundkämpferin schmuggelte die kleinen Schulhefte aus dem Ghetto hinaus und versteckte sie in der Universität.

Im März 1944 holten die Nazis die letzten Kinder ab, unter ihnen Schurs dreizehnjähriger Sohn Aron. Auf Drängen ihres Vaters floh die neunzehnjährige Miriam unter großer Gefahr aus dem Arbeitsblock. Sie lebte bis zum Einmarsch der sowjetischen Armee im Juli 1944 versteckt in Wilna. Ihre Mutter wurde eine Woche vor der Befreiung der Stadt erschossen. Die Aufzeichnungen ihres Vaters enden im April 1944. Er wurde nach Riga und später ins KZ Stutthof transportiert. Im Dezember 1944 ertränkten ihn die Nazis zusammen mit hunderten anderen KZ-Gefangenen im Meer.

Das Manuskript von Grigorij Schur wurde nach dem Krieg gefunden und im neu gegründeten jüdischen Museum von Wilna aufbewahrt. Doch 1949 lösten die sowjetischen Machthaber das Museum auf und machten sich ihrerseits daran, jüdische Schriften zu vernichten oder auf diverse Archive zu verteilen. Schurs Aufzeichnungen verschwanden im Museum der Geschichte der Revolution. Man weigerte sich, sie seiner Tochter auszuhändigen. Eine Museumsmitarbeiterin fertigte aber heimlich ein Typoskript für sie an.

Weil sich die antijüdische Politik in der Sowjetunion verschärfte, verließ Miriam Povimonskaja-Schur 1960 mit ihrem Mann und ihren Kindern Wilna und wanderte nach Israel aus. 1994 hat sie zum ersten Mal wieder ihre Heimatstadt Wilna besucht, vor kurzem ist sie mit ihrem Mann zum ersten Mal auch in Auschwitz gewesen. Aber sie habe es dort nicht lange ausgehalten, sagt sie. In Auschwitz ist ihr kleiner Bruder umgekommen, wie sie heute weiß.

1989 konnte auch Wladimir Porudominski aus der Sowjetunion ausreisen. Zum ersten Mal sah er nun die Aufzeichnungen seines Onkels. Porudominski machte sich an die Bearbeitung des in Russisch geschriebenen Manuskripts. Doch erst in den Neunzigerjahren, nachdem Litauen unabhängig geworden war, wurde es möglich, das Typoskript mit dem Original zu vergleichen, das heute im litauischen Staatsarchiv in Wilna liegt.

Miriam und Wladimir hatten große Schwierigkeiten, für das Tagebuch einen Verlag zu finden. Wladimir versuchte es in Russland und in Deutschland. Nichts. Schließlich fanden sie den niederländischen Verleger Jan Mets, und der stellte schließlich die Verbindung zum Deutschen Taschenbuch Verlag her. In Russland erschien es im vergangenen Jahr, doch in Israel ist es bisher nicht gelungen, das Buch zu veröffentlichen.

Miriam hat sich an das Haus der Ghettokämpfer bei Akko gewandt und an die Gedenkstätte Jad Vaschem, beide Male ohne Erfolg. Vielleicht spielt eine Rolle, dass in Jad Vaschem die Figur des Ghettoleiters Gens, den Schur einmal den „Ghettodiktator“ nannte, positiv beurteilt wird. Und jüdische Kollaboration mit den Nazis ist immer noch ein Tabuthema. Miriam hofft, dass das Buch ihres Vaters irgendwann doch noch in Israel verlegt wird. Sie will, dass endlich auch ihre Enkelkinder, die in Israel geboren sind und nicht mehr Russisch oder Deutsch sprechen, die Aufzeichnungen aus dem Wilnaer Ghetto auf Hebräisch lesen können.

THOMAS MOSER, 42, ist Politologe und lebt als freier Journalist in BerlinDie Juden von Wilna. Die Aufzeichnungen des Grigorij Schur 1941–1944. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1999, 218 Seiten, 24,90 Mark

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