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Eine stille Kammersuite

Nur scheinbare Banalitäten: Die Performance „Memory“ des Zürcher Kollektivs Theater Neumarkt verbindet Video, Schauspiel und Musik zu einer sorgsamen Collage von Erinnerungen

Wie funktioniert Erinnern im Zeitalter der Neuen Medien

von ANNETTE STIEKELE

Eine gigantische Fläche, grau mit tiefen Furchen, wie Elefantenhaut. Spuren des Erlebten haben sich tief eingegraben. Es ist die Haut dreier Frauen, die da abstrakt über drei Leinwände projiziert wird. Frauen über 90. Manchmal gibt es auch einen Augenaufschlag oder ein mildes Lächeln zu bestaunen. Auf der Bühne rezitieren drei SchauspielerInnen Erlebnisse der Gezeigten. Scheinbare Banalitäten und Belanglosigkeiten. Ein Spaziergang mit dem Hund. Ein Streit mit dem kleinen Bruder. Und doch: Bilder und Texte, Fragmente des Erlebens, fügen sich zu einer Chronologie von der Kindheit bis ins hohe Alter.

Memory lautet der Titel der Videooper des Zürcher Theaterkollektivs Theater Neumarkt, das beim Kampnagel-Sommerfestival Laokoon zu sehen ist. Längst liegt die Alpenrepublik mit ihrer lebendigen Szene im Theaterbereich ganz weit vorn. Das Theater Neumarkt bildet hier einen wichtigen kreativen Pol. 1957 in Düsseldorf geboren, ist sein Direktor Otto Kukla Theaterleiter, Schauspieler, Regisseur und Bühnenbildner in einem. Kodirektorin Crescentia Dünsser ist ebenfalls ein Multitalent. Sie beherrscht Film, Regie und Schauspiel.

Die Performance Memory lehnt sich an den Dokumentarfilm Mit Haut und Haar an, den Crescentia Dünsser 1998 gemeinsam mit Martina Döcker entwickelt hat. Aus dem Filmmaterial – insgesamt 24 Stunden Interviews mit sechs Frauen von 75 bis 92 Jahren – hat Regisseur Kukla ausgewählte Erlebnisberichte der drei ältesten zu einer sorgsamen Collage zusammengeschnitten. Zu Wort kommen eine Keramikunternehmerin, eine Theaterwissenschaftlerin und eine Erzieherin. Sie erzählen von Erfahrungen aus der Kindheit, dem Erwachsenenleben, den Entbehrungen des Krieges, bis hin zum Alter. Gleichzeitig wirft Memory die Frage auf, wie Erinnern im Zeitalter der Neuen Medien funktioniert.

Auf der Bühne bewegen Anna Grisebach, Ursula Reiter und Thomas Douglas ihre Lippen synchron zu den Erzählungen der alten Frauen auf den Bildern. Für die Inhalte, die sich nicht über Sprache mitteilen lassen, hat der Choreograf MM Gruber ihnen eine Art persönliches „Körperalphabet“ auf den Leib geschrieben. So recken die Frauen zu den Kriegserlebnissen ihre Glieder wie BalletttänzerInnen. Im Dialog zwischen den Performenden und den Projizierten begegnen sich das Authentische und das Fiktionale, Mensch und mediale Erzählform.

Mitunter stockt die Erzählung. Dort, wo die Erinnerung allzu blass und ferne scheint. „Daran kann ich mich im Einzelnen nicht mehr erinnern“, heißt es dann in einem Endlosloop. Dass das Ganze nicht zu einem beklemmenden Trauerspiel des Alters und Vergessens gerät, sondern zu einer sehr gegenwärtigen Demonstration jugendlicher Lebensfreude, liegt an den DarstellerInnen.

Als drittes Element kommt eine kontemplative Tonspur hinzu. Filmkomponist Harald Bluechel alias Cosmic Baby hat die Filmmusik zu Mit Haut und Haar beigesteuert. Aus einigen ihrer Grundmotive hat er eine mal wehmütige, mal komische Minimal Music für die historischen Instrumente des Zürcher Amar-Quartett gebastelt.

Alle drei Ebenen zusammen, Video, Schauspiel und Musik, ergeben ein kohärentes Ganzes. Memory hat in der Schweiz für viel Aufsehen gesorgt. Und scheint dabei eher eine stille Kammersuite als eine laut tosende Videooper.

Do, Fr + Sa, 21 Uhr, Kampnagel, k2

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