Eine philosophische Annäherung: Die Renaissance des Spaziergangs
In der Pandemie müssen wir raus. Auf die Straßen, in die Natur. Gehen ist mehr als Bewegung, Zeitvertreib und Zerstreuung.
Die Clubs sind zu, daher geht es auf die Straßen: Denn wir gehen nicht nur für Bewegung oder Zerstreuung. Nicht nur, um Freund*innen zu treffen, die wir drinnen nicht mehr sehen wollen/sollen/können. Der Spaziergang erfüllt auch ein anderes Bedürfnis – das nach Gewissheit.
Wer spaziert, versichert sich seiner selbst. Denn was wir während der Selbstisolation über uns wissen, beschränkt sich auf wenige Räume: Ich starre stundenlang im Homeoffice auf einen Bildschirm. Zum Feierabend schlappe ich 5 Meter weiter auf die Couch; ich starre auf einen anderen Bildschirm. Meine Welt, das ist meine Wohnung. Jetzt. Und dann gibt es diese verschwommene Erinnerung an eine vergangene Zeit.
Das Draußen zerrt an uns und wir geben uns hin. Wir spazieren in eine Welt voller Versionen unserer Selbst. Wir können aufgeregt ein Date im Park erleben oder mit Freund*innen entspannt lachen. Wir können nach Wochen mit der*m Partner*in in der Wohnung endlich einsam sein. Wir nehmen unterschiedliche Positionen ein und versichern uns, dass sie, dass wir noch funktionieren.
Diese Existenz des Körpers in der Öffentlichkeit macht uns sichtbar und für andere erfahrbar. Unsere Körper werden zum Statement. Ich bin hier, ich gehöre hierher – wenn nicht immer, dann doch jetzt und in diesem Moment. Wer die Straße betritt, betritt die Aufmerksamkeit der anderen. Diese Aufmerksamkeit bringen wir auch denen entgegen, denen wir begegnen. Beim Spazieren in der Mittagshitze spüre ich, wie der Schweiß die Schienbeine des Lieferanten herabrinnt. Im Dezember fühlen wir die Wärme der Maske auf der Nase der alten Frau. Wir spüren die anderen Menschen und ihre Befindlichkeiten. Wer sich fragt, wie sich der Jugendliche im Rollstuhl fit hält, dass er so elegant vom Bordstein rollt, versucht ihn zu fühlen.
Das Parfum des alten Manns
Hierin besteht neben der Selbstversicherung ein weiterer Aspekt des Spazierens: Wir versichern uns unserer Umwelt. Denn im ständigen Feed der Social-Media-Plattformen hat ihre Darstellung wenige Dimensionen. Es fehlt ihr natürlicher Gestank. Den können wir erst draußen erschnuppern. Wer über das Tempelhofer Feld in Berlin geht, kann das Parfüm des alten Manns riechen oder den Duft der Keksfabrik einige hundert Meter entfernt.
Mit diesen Eindrücken nehmen wir nicht nur wahr, sondern setzen auch in den Kontext. Wir laufen durch den Park und hören Flugzeuge. Das Gehirn ergänzt Bekanntes und plötzlich wird uns wieder bewusst: Es sind die letzten Tage von Tegel. Wir erinnern uns und das Leben wird einfacher. Daraus ergeben sich neue Informationen zu Bekanntem. Wir erkennen aufs Neue die hässliche Architektur des Jobcenters und zeichnen im Kopf erst jetzt – denn auf dem Weg zur Arbeit hatten wir nie die Zeit – eine Timeline von Graffiti und Farbklecksen, mit denen andere versucht haben, dem Gebäude Würde zu geben. Die Vergangenheit und die Gegenwart der Orte tun sich vor uns auf und wir bekommen ein neues Gefühl für das Gefüge der Stadt. Sie wurde von den Planer*innen nicht zum Leben geschaffen, sondern vor allem für Autos, Arbeit, Macht.
Diese Planung stören wir als Spazierende. Anfang der 1990er Jahre ging der Soziologe Lucius Burckhardt, der die Spaziergehwissenschaft begründen wollte, mit Studierenden auf einer vielbefahrenen Straße in Kassel spazieren, jede*r mit einer Windschutzscheibe vorm Gesicht. So bekamen sie nicht nur den stark verlangsamten Blick von Autofahrer*innen. Vor allem störten sie. Für diese Störung muss man sich nicht auf eine gefährliche Straße stellen. Es reicht, in verkleckerter Jogginghose durchs edle Villenviertel zu gehen.
Relikt aus geldfreier Jugend
Der Spaziergang weist nach vorne, zeigt uns Möglichkeiten eines Ortes. Unsere Coronaspaziergänge ähneln dem Flanieren durch Passagen im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts. Damals war das nicht nur für Walter Benjamin ein großes Ding, sondern vor allem für ärmere Menschen, die nun endlich in Kaufhäuser konnten, in denen sie zwar nichts kaufen, aber doch alles betrachten konnten. Den Wahnsinn der sich vernetzenden Welt, die Möglichkeiten des Reichtums, unerreichbare Waren.
Der Schaufensterbummel, ein Relikt aus geldfreier Jugend, bekommt einen neuen Charakter. Habt ihr gesehen, dass die Bar dichtgemacht hat? Dafür bauen sie in der Eckkneipe einen neuen Tresen. Und im Café wedelt die Besitzerin jeden Mittag den Staub vom Bücherregal. Wir empfinden Schmerz, wenn Läden schließen. Hoffen, wenn im Jugendclub die Wand frisch gestrichen wird, damit die Sprayer wieder Platz haben. Denn da weiß jemand: Die kommen wieder.
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