: Eine kritische Mahnung zur Seitenwende
Die Autorin Sibylle Berg will eine radikale wochentaz sehen. Und das deutlich lieber auf Papier als auf einem überwachungstauglichen Endgerät
Brief Eine Gruppe von 130 WissenschaftlerInnen (E-READ, Evolution of Reading in the Age of Digitisation) hat den Unterschied beim Lesen von digitalen und gedruckten Inhalten untersucht.
Heraus kam, was fast jeder an sich selbst beobachten kann: Komplizierte Texte werden gedruckt signifikant besser verstanden als digital. Gedrucktes zu lesen ist augenschonender. Die Konzentration ist beim Lesen von Gedrucktem markant höher, die Erinnerungsfähigkeit und das Erkennen und Verstehen von Zusammenhängen dito.
Seit dem Jahr 2000 ist bekannt, dass den Generationen, die mit Onlinetexten aufwuchsen, die Fähigkeiten fehlen, Texte vertieft zu lesen. Schwamm drüber.
Ein paar Opfer müssen auf dem Weg in die Zukunft, heißt: mehr und eigentlich alles zu digitalisieren, gebracht werden, und sei es der Verstand der Menschen, den wir nicht mehr benötigen, weil wir die wunderbare KI haben, die gekommen ist, um uns abzulösen, um uns in einen Untergrund zu schicken, wo wir Strom für Rechenzentren erzeugen, während wir online Texte lesen.
Was bin ich in einer Aufgebrachtheit – und noch nicht fertig: Die Vorteile des Gedruckten hören mit der Auswirkung auf den Verstand und das Begreifen nicht auf. Zeitungen auf Papier kann man weitergeben, man kann Artikel ausschneiden, aufbewahren, weiterverwenden, Feuer machen, Dinge einwickeln, Fenster putzen, und vor allem kann man etwas besitzen, das einem nicht zusammen mit einem Endgerät entwendet werden kann, oder batterieladestandabhängig ist, oder das das Tracken des Users ermöglicht, weil der verdammte Zeitungstext in einem verdammten Handy – anderes Wort für Dauerüberwachung – befindlich ist.
Wir glotzen auf unsere Endgeräte. Dauernd, ohne mit der Welt zu interagieren, wir laufen vor Laternenmasten, auf Kreuzungen werden wir erfasst, in die Luft geschleudert, versterben, mit dem Endgerät in der Hand, auf dem wir nach einem taz-Text schnell noch ein Tutorial für Pilzzucht ansehen.
Wir sehen uns einzelne Texte an, die uns interessieren, ignorieren das, was unser Aufmerksamkeitszentrum nicht für interessant erachtet, wir würden heute vielleicht keinen Text von Wiglaf Droste mehr lesen, der die Überschrift: „Sind Soldaten Faxgeräte“ trägt. Zum einen, weil den digital Lesenden eine solche Überschrift verunsichern könnte, unklare Aussagen kann der schnell Überfliegende nicht erfassen. Zum anderen, weil sich auch die taz von ihrem radikalen Links-Sein und Gegen-das-System-Kämpfen verabschiedet hat.
So weit die kleine Kritik zum Ende, das auch ein Anfang sein kann.
Liebe taz. Behaltet die Druckmaschinen. Sucht euch radikale Denkerinnen, mutige AutorInnen, holt euch KünstlerInnen und WissenschaftlerInnen, wagt mit eurer weiterhin gedruckten wochentaz ein Heft, das sich den hehren Aufgaben von Anarchie und Revolution verpflichtet. Kritisiert das System, zerlegt es in Einzelteile, seid pazifistisch, misstraut Manipulation. Macht verdammt nochmal das beste Printheft Deutschlands. Der ganzen Welt. Seid modern. Wild – und verschrottet eure Endgeräte.
Mit freundlichen Grüßen
Sibylle Berg,Schriftstellerin, Dramatikerin und Mitglied des Europäischen Parlaments (Die Partei), engagiert sich seit Langem erfolglos gegen den Kapitalismus und digitale Überwachung. Im November 2025 wird „PNR. La Bella Vita“ erscheinen. Ihre Arbeiten wurden in 34 Sprachen übersetzt.
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