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Eine Theaterreise nach SofiaBulgarien wird nicht erwachsen

Ein "Ford Escort Dunkelblau" kommt weit: Das Theater Osnabrück fuhr mit gleichnamigem Stück nach Bulgarien. Und lernte eine Kultur kennen, die aus der Isolation ausbricht.

Mit engagierter Dramatik tut man sich, wie hier im Nationaltheater Sofia, noch schwer. Bild: marcus

Bulgarien erfüllt auf den ersten Blick viele Klischees, die man über Raubtierkapitalismus im Kopf hat. Zuerst fallen die maroden Gründerzeitfassaden auf, verklebt mit westlichen Firmennamen: Postbank, Prada, Adidas. Dazwischen blinken bunte Wegweiser zu den Sexshops. Restaurants gibt es kaum. Ob in Sofia oder Russe, unterwegs mit einem Gastspiel des Theaters Osnabrück gehen wir so meist ins "Happy", ein Schnellrestaurant, in dem es mit Schafskäse bestreute Pommes und Tomaten-Gurken-Salat gibt. Die Kellnerinnen sehen aus wie gleichgeschaltete Animierdamen: rote Miniröcke, die kaum über den Po reichen, eng anliegende Oberteile bei Außentemperaturen von minus 10 Grad. Auf Bildschirmen flimmert die bulgarische Version von MTV, nur schärfer. Selbst Unterwäschewerbung sieht hier aus wie ein Softporno.

Diejenigen, die sich Markenartikel aus dem Westen leisten können, fahren mit dunklen großen Autos, zuweilen mit deutschen Kennzeichen, zwischen den Trabis. "Das ist die Mafia, sie hat Bulgarien fest im Griff", vermutet Rudolf Bartsch, Leiter des Goethe-Instituts in Sofia. Schon im Flugzeug, wenn sich der Vorhang zur Business Class lüftete, sah man einen Mann in Anzug, der wie in einem schlechten Stück die Zeitschrift Guns las.

Und so findet in Bulgarien eine Art tägliches Improvisationstheater statt. Auf den Bühnen reflektiert sich das allerdings nicht. "Das bulgarische Theater ist nicht politisch, Bulgaren wollen sich im Theater lieber unterhalten lassen", erzählt der Schauspieler Lubov Mirkenev, "wir beschäftigen uns eher mit zwischenmenschlichen Themen." Seit fünf Jahren ist er fest am Theater in Russe engagiert, für 200 Euro im Monat, wie seine 21 Kollegen. Ärzte und Lehrer verdienen etwa so viel. Im Vergleich zu manchen Renten von rund 20 Euro fast ein prächtiger Lohn. Das Theater in Russe, einer Stadt mit rund 165.000 Einwohnern, ist eines der bedeutendsten in Bulgarien und soeben mit dem "Theater-Oscar" Askeer ausgezeichnet worden. Sein Etat beläuft sich auf eine halbe Million Euro. Zum Vergleich: Der Etat des Vierspartenhauses in Osnabrück, einer vergleichbar großen Stadt, beträgt 16 Millionen Euro. Trotzdem ist das Ensemblesystem an den 43 Theatern von Bulgarien fest verankert, das Nationaltheater in Sofia hat sogar 40 feste Schauspieler.

Für Bulgaren muss das Gastspiel des Theaters Osnabrück ein Realitätsschock sein. Sie kommen mit ihrem preisgekrönten Stück "Alter Ford Escort Dunkelblau" von Nachwuchsdramatiker Dirk Laucke. Die Gegenwartsdramatik ist unter dem Intendanten Holger Schultze in den letzten zwei Jahren zu einem Schwerpunkt des Hauses geworden. Das Gastspiel ist der Auftakt zu einem lang angelegten Austausch mit dem Theater Russe, mit Workshops, deutsch-bulgarischen Koproduktionen bis hin zu Stückübersetzungen.

"Alter Ford" ist eine tragikomische Metapher auf eine ostdeutsche Nachwendegeneration zwischen Aufbruchswille und Scheitern. Sie erzählt poetisch und derb von drei Zeitarbeitern, die im Plattenbau leben und Bierkisten stapeln, keine Zukunftsperspektive haben und trotzdem auf große Fahrt gehen. Die Vorstellung ist fast ausverkauft, viele junge Leute, die Deutsch sprechen, sind gekommen, bleiben danach zur Podiumsdiskussion und sind begeistert vom "authentischen" Spiel der Darsteller. "Ihr in Deutschland seid wohl sehr sozialkritisch, wir interessieren uns als Slawen mehr für die menschliche Seele", sagt einer. "Ich bin überzeugt davon, dass man solche Themen auf der Bühne auch hier zeigen muss und sie Publikum finden würden", meint eine junge Schauspielerin. Sie würde Lauckes Stück am liebsten selbst inszenieren, aber: "Dazu habe ich wohl kaum eine Chance."

Seit Bulgarien in der EU ist, legen Stiftungen wie "Pro Helvetia" oder die amerikanische "Open Society" keine Förderprogramme mehr auf, sagt die Journalistin Ludmila Dimova in Sofia. Das sei ein schwerer Einschnitt für den künstlerischen Nachwuchs. Zudem leide die Künstlerszene seit der Wende am Wegzug von annähernd zwei Millionen Bulgaren, etwa 20 Prozent der Bevölkerung. Die Hälfte pendele zwischen Ost und West, "der Rest ist einfach verschwunden".

Dass die Theaterszene in Bulgarien heute weitgehend aus Unterhaltungstheater besteht, wird auch von anderer Seite bestätigt. "Seit etwa sieben Jahren findet auf der Bühne so gut wie keine Spiegelung der sozialen Realität mehr statt. Obwohl die staatliche Unterstützung gesichert ist, ist der Zustand des bulgarischen Theaters besorgniserregend", sagt die Theaterwissenschaftlerin Violeta Detcheva.

"Direkt nach der Wende gab es engagierte Versuche, im Theater ästhetisch neue Wege zu gehen, voller Wut und Euphorie." Aber die Zuschauer blieben aus, sie hatten andere Sorgen, viele Theater mussten schließen. Langsam erholt sich das Theaterleben wieder. Aber es werde hauptsächlich zur Zerstreuung genutzt - bloß keine Probleme auf die Bühne bringen. Dass es nun zu einem Austausch mit Westeuropa kommt, erscheint Detcheva überfällig. "Das ist ein bulgarisches Symptom: der Hang zur Isolation."

Trotzdem legt man in Bulgarien Wert auf Gegenwartsdramatik: Rund 60 Prozent der gespielten Autoren sind zeitgenössisch, darunter sind Hanoch Levin, Vladimir Mrozek und sogar Igor Bauersimas "Norway.Today". Und dann natürlich Stücke von bulgarischen Autoren, wie das "Titanic-Orchester" von Christo Bojtschev. Der Intendant Plamen Panev hat die märchenhafte Mischung aus Beckett und Ionesco am Theater in Russe inszeniert. Auf einem verlassenen Bahnhof treffen sich vier Kofferräuber. Weil aber längst kein Zug mehr hält, ernähren sie sich von dem, was die Reisenden aus dem Fenster werfen. Auf der Bühne liegen zerdrückte Bierdosen und Tetrapaks. Eines Tages fliegt eine Kiste aus dem Fenster. Darin ist der Trickkünstler Harry, der die wahre Kunst des Überlebens lehrt: die Fantasie.

Ein anderes Stück heißt "Ein bulgarischer Witz" von dem Autor Iwan Kulekow. Darin versucht ein Mann, einen Film zu finanzieren. Auf seiner Irrfahrt zwischen potenziellen Geldgebern improvisiert er einen alten Witz immer wieder neu: Ein Mann erwischt seine Frau mit einem anderen im Bett. In verschiedenen Szenen werden die Gründe für das Scheitern des Paares vorgespielt. Eine Betrachtung über die Unmöglichkeit der Liebe und darüber, wie fantasievoll um Kulturfinanzierung gekämpft werden muss.

Als experimenteller Gegenpol zum Unterhaltungstheater gilt seit 1989 die Gruppe Sfumato, benannt nach einer malerischen Technik von Leonardo da Vinci. Seit zwei Jahren haben sie in Sofia ein eigenes Theaterhaus und ein kleines, treues Stammpublikum. Ihr Stück "Strindberg in Damaskus" vom 38-jährigen Autor Georgi Tenev verzahnt Szenen aus der Ehe Strindbergs, dem Leben der ermordeten Künstlermuse Dagny Juel und dem Zusammenbruch Nietzsches. Juel kommt als bleicher Geist mit hallender Mikrostimme aus einem Teppich emporgefahren, darüber liegt ein düsterer Schwarzweißfilm von einer geisterhaften Autofahrt ins Nirgendwo: ein pathetisches Stück über die Suche nach dem Absoluten in der Kunst, die in Wahnsinn und Tod münden kann. Tenev, der in Bulgarien ein bekannter Gegenwartsautor ist, sieht, dass sich trotz der großen Krise, die das Land in Kultur und Gesellschaft erfasst hat, langsam etwas bewege in seinem Land.

Die Journalistin Ljudmila Dimova erzählt uns mehr darüber: Die Regisseurin Gergana Dimitrova, ausgebildet an der Ernst-Busch-Schule in Berlin, veranstaltet szenische Lesungen an theaterfernen Orten. Junge Regisseure haben gerade ein Festival reanimiert, organisiert von Ivan Stanev, der heute in Berlin lebt. Sie spielen sogar auf einer Bühne unseres Hotels in Sofia, in dem die Zimmer mit tiefbraunem Holzmobiliar und sozialistischen Teppichmustern aussehen wie ein Bühnenbild von Anna Viebrock. Auch ein junger Dramatikerpreis wurde gerade ausgeschrieben. Gewonnen hat ihn die bislang unbekannte Autorin Jana Barisova mit einem Kammerstück, das "genau die bulgarische Generation zwischen 30 und 40 porträtiert, die nicht erwachsen werden will", so Dimova. Vier Freunde treffen sich einmal im Monat und spielen ein Kinderspiel, bis sich ein schlimmes Geheimnis aus ihrer Jugendzeit enthüllt.

Und im Mai soll in Sofia sogar ein Privattheater für Gegenwartsdramatik eröffnen, in dem erstmals die erfolgreichen Gesellschaftskomödien der französischen Theaterautorin Yasmina Reza gespielt werden sollen. Finanziert wird es übrigens vom griechischen Erdölmagnaten Dimitrios Avanitis, die Schauspieler sollen doppelt so viel verdienen wie sonst. Manchmal widerspricht "der" Kapitalismus eben doch den Klischees.

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