piwik no script img

Eine Stadt gebaut aus Grabsteinen

Eigentlich wollte er nur seine Wurzeln finden. Dann verfasste der Fotograf Martin Barzilai ein Buch über den jüdischen Friedhof von Thessaloniki. Den haben die Nazis zerstört. Bis heute sind die Grabsteine überall in der Stadt verstreut

In der Wand um den Bahnhof, dessen Bau in den 1930er begann und erst 1961 endgültig beendet war, befindet sich ein Fragment eines jüdischen Grabsteins

Aus Athen Ferry Batzoglou (Text) und Martin Barzilai (Fotos)

Die Bedeutung der Stadt für das Judentum kennt Martin Barzilai gut. Der Fotograf weiß, dass die nordgriechische Hafenstadt einst als „Jerusalem des Balkans“ galt: Thessaloniki. Die Stadt, aus der Barzilais Vorfahren stammen, stellte ab Mitte des 19. Jahrhunderts unangefochten das kosmopolitischste und multikulturellste Zentrum des Osmanischen Reiches dar. Ökonomisch wie kulturell spielten die Juden dabei eine herausragende Rolle.

Juden, die einst auf der Iberischen Halbinsel gelebt hatten, die Sepharden, waren ab 1492 aus Spanien und ab 1496 aus Portugal vertrieben worden. Ein Teil von ihnen siedelte sich in Thessaloniki an, eine Großstadt, die damals zum Osmanischen Reich gehörte. Im Jahr 1902 machten Juden mit rund 62.000 Personen knapp die Hälfte der Stadtbevölkerung aus.

All das änderte sich schlagartig, als am 6. April 1941 Truppen der deutschen Wehrmacht Hellas angriffen und rasch auch in Thessaloniki einmarschierten. Etwa 50.000 Juden lebten zu diesem Zeitpunkt in der Stadt. Sie bildeten vor dem deutschen Überfall die mit Abstand größte der 39 aktiven jüdischen Gemeinden in Griechenland.

Die Nazis gingen skrupellos gegen sie vor. Das traf auch die Vorfahren von Martin Barzilai. Im Juli 1942 befahlen Nazis 9.000 männlichen Juden griechischer Staatsangehörigkeit, sich auf dem zentralen „Platz der Freiheit“ in Listen für Zwangsarbeit einzutragen. Am 6. Dezember 1942 wurde der alte jüdische Friedhof, der größte jüdische Friedhof in ganz Europa, mit geschätzt über 300.000 Gräbern, im Herzen von Thessaloniki vollständig zerstört und eingeebnet. Das weitläufige Gelände wurde in einen großen Steinbruch umgewandelt, das Material für verschiedene Bauzwecke verwendet. Grabsteine, Grabeinlassungen und Grabplatten von unschätzbarem Wert wurden entfernt.

9. November

Am 9. November, kommenden Sonntag, ist Internationaler Tag gegen Faschismus und Antisemitismus.

Es ist ein Gedenktag, der an die Pogrome von 1938 erinnert, bei denen mindestens 1.300 Jüdinnen und Juden ermordet wurden. Schon in den Wochen und Monaten zuvor hatte Deutschland Jüdinnen und Juden zunehmend ausgegrenzt: mit Berufsverboten, Ausschluss aus den Universitäten und später mit den „Nürnberger Rassegesetzen“ sowie der „Arisierung“ jüdischer Unternehmen.

Am 9. November 1938 fanden die Pogrome ihren Höhepunkt. Jüdinnen und Juden aus dem gesamten Staatsgebiet wurden verschleppt, vergewaltigt, inhaftiert und ermordet. Jüdische Geschäfte, Wohnungen und Gemeindehäuser wurden geplündert, zerstört und in Brand gesteckt. Mehr als die Hälfte der Synagogen in Deutschland und Österreich wurde zerstört. Während die Pogrome vom Staat koordiniert und von SA und SS angeführt wurden, beteiligten sich große Teile der nichtjüdischen deutschen Bevölkerung aktiv oder stimmten durch Schweigen zu.

Die Pogrome waren der Auftakt zur Vernichtung. Schon am 10. November wurden 30.000 Jüdinnen und Juden in Konzentra­tionslager deportiert.

Deportationen im großen Stil folgten. Von März bis August 1943 deportierten die deutschen Besatzer mehr als 45.000 Juden aus Thessaloniki mit dem Zug in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Nahezu alle Deportierten kamen in den Gaskammern ums Leben. Der brutalen Verfolgung entkamen nur wenige Juden: etwa 300 mit spanischer Staatsangehörigkeit erreichten Spanien, andere flohen nach Palästina, rund 500 flohen in die nahe gelegenen Berge, um sich dem linken Widerstand gegen die Wehrmacht anzuschließen. Doch die blühende jüdische Gemeinde wurde von 1941 bis 1943 nahezu völlig ausgelöscht. Heute leben nur noch etwa eintausend Juden in der Stadt.

Die Nachkommen der wenigen, die überlebten, sind heute in der Welt verstreut. So auch die des 54-jährigen Martin Barzilai, der in Uruguays Hauptstadt Montevideo geboren wurde und heute in Paris wohnt. Seine Verbindung zu Thessaloniki geht auf seinen Großvater Leon Barzilai zurück, der dort 1907 zur Welt kam. Als der 17 Jahre alt war, also 1924, ist er mit seinen Eltern nach Paris gezogen, erzählt Barzilai im Gespräch mit der taz.

Auch an der Kirche Hagios Nikolaos Orfanos aus dem 14. Jahrhundert wird ein Grabstein vom jüdischen Friedhof vermutet. Zu sehen ist das Motiv eines mehrarmigen Kerzenleuchters

Von den Familienmitgliedern, die in Thessaloniki zurückblieben, habe fast keiner die Gräueltaten der Nazis überlebt. Einer der Ermordeten war der Fotograf Mamoute Menahem. Das war ein Onkel von Leon Barzilai. Martin Barzilai fand ein Foto des Verwandten im Familienarchiv seines Opas. Darauf zu sehen ist ein Selbstporträt von Mamoute Menahemam, wie er 1926 am Grab seiner Schwester Doudoune auf dem jüdischen Friedhof in Thessaloniki sitzt. Da habe Barzilai sofort Neugier gepackt. Damals war er noch ein Teenager, und von da an hatte er den Wunsch, das Grab seiner Vorfahrin zu finden. Er erfuhr bald: Der Friedhof existiert nicht mehr. „Schon mein Großvater Leon sagte stets: ‚Es gibt nichts mehr in Thessaloniki.‘“

Doch das stimmt nicht ganz. Martin Barzilai reiste 2018 erstmals und ab dann immer wieder in die Heimatstadt seiner Vorfahren. „Ich wollte meine Wurzeln finden und sehen, was aus den Gräbern geworden ist.“ Um den Holocaust sei es ihm damals gar nicht gegangen.

Der Boden und die Treppen der hübschen Limneou- Passage im Norden der Stadt bestehen aus Grabsteinen des zerstörten jüdischen Friedhofs

Er wurde fündig. Mauern, Bauten, orthodoxe Kirchen und auch das Areal des „Weißen Turms“ (Λευκός Πύργος) – das Wahrzeichen der Stadt: Überall in der Stadt fand Barzilai Fragmente jüdischer Gräber.

In der orthodoxen Kirche des heiligen Dimitrios wurden Marmorplatten mit jüdischen Inschriften verbaut, die die damaligen Verantwortlichen im Oktober 1943 „für den Wiederaufbau der Kirche“ angefordert hatten. Das Königliche Theater pflasterte man 1943 mit „etwa 250 Quadratmetern quadratischer Platten mit den Maßen 0,50 × 0,50 cm aus Marmor der ehemaligen jüdischen Friedhöfe“, wie es in der Bekanntmachung der Gemeinde heißt. Vom berüchtigten deutschen Offizier Max Merten, der die Kennzeichnung, Ghettoisierung und den Vermögenseinzug der Juden befahl, wird berichtet, dass er „mit seinen Stiefeln auf diesen (jüdischen Marmor-Grabplatten) herumgetanzt“ sei und gesagt haben soll, „er höre das Knacken der Knochen der Juden“.

Zwei Stelen vom jüdischen Friedhof, eine davon ist aus dem Jahr 1912, stehen heute vor einer Feuerwehrwache, nahe der Kreuzung der Straßen Agiou Dimitriou und Olimpiados

Dass die Fragmente des Friedhofs über die Stadt verteilt sind, hat Barzilai von einem ehemaligen Geschäftsmann und gebürtigen Thessaloniker Jacky Benmayor erfahren. Er ist einer der wenigen in der Stadt, der „Ladino“ (לאדינו) lesen kann. Das ist Judäo-Spanisch, die romanische Sprache der Sepharden mit hebräischen Buchstaben. Ebenso hilfreich bei der Suche war der Apotheker Iosif Vahena. Er habe im Alter von acht Jahren beim Spielen mit seiner Schwester nahe einer orthodoxen Kirche im Stadtteil Panorama einen jüdischen Grabstein entdeckt.

Zwei Stelen vom jüdischen Friedhof, eine davon ist aus dem Jahr 1912, stehen heute vor einer Feuerwehrwache, nahe der Kreuzung Agiou Dimitriou und Olimpiados Straße

Barzilais gewonnene Erkenntnisse flossen 2023 in das Buch „Cimetière fantôme: Thessalonique“ („Geisterfriedhof: Thessaloniki“) ein. Darin präsentiert er 64 Farbfotos, ein Tagebuch und Interviews. Erstmals hat Martin Barzilai auf einer Stadtkarte die 20 Orte in Thessaloniki markiert, an denen sich heute noch Friedhofsfragmente finden. Und die Historikerinnen Kateřina Králová und Annette Becker haben für das Buch die Geschichte des alten jüdischen Friedhofs von Thessaloniki beleuchtet.

Bei seiner Suche sei er „nüchtern professionell“ vorgegangen – trotz der religiösen und familiären Nähe, betont Barzilai gegenüber der taz. Eine Entdeckung hat ihn dann doch schockiert: Die 1943 gegründete Medizinische Fakultät der Aristoteles-Universität, deren Campus auf dem Gelände des jüdischen Friedhofs errichtet wurde, verwendete Grabplatten als Seziertische. Außerdem baute sie „drei Betonbecken, in die sie Leichen aus dem jüdischen Friedhof legte, damit die Studenten daran üben konnten“, so der Fotograf.

Fotograf Martin Barzilai

Dass der damalige Bürgermeister der Stadt, der inzwischen verstorbene Jannis Boutaris, 2014 bei der Einweihungsfeier des Denkmals für den zerstörten jüdischen Friedhof auf dem Gelände der Universität erklärte, dass die Stadt „sich für dieses ungerechte und schuldhafte Schweigen“ schäme, findet Barzilai angemessen. Boutaris sei ein „kultivierter Mensch“ gewesen. Dass Deutschland den Bau eines Holocaust-Museums in Thessaloniki mit zehn Millionen Euro teilfinanziert, trage dazu bei, Wunden zu heilen, meint Barzilai.

Er wisse, dass die Liste der Orte mit Resten des alten jüdischen Friedhofs nicht komplett sei, sagt er. Er würde gerne abermals nach Thessaloniki reisen, um sie zu ergänzen. Martin Barzilais Botschaft mit Blick auf seine Funde lautet: „Menschen kann man nicht auslöschen.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen