Eine Hommage an Istanbul: Die Unbezwingbare
Terror, Krieg und ein Despot an der Spitze – immer mehr Ausländer meiden Istanbul. Dabei übersehen sie, was diese Stadt so großartig macht.
Istanbul? Nein, lieber nicht. Die Reaktionen von Freunden sind eindeutig. „Bin ich lebensmüde?“, fragen sie. Oder: „Was soll ich in Erdoğan-Land, da fahre ich doch lieber nach Barcelona.“ Nicht erst, aber erst recht seit dem Attentat auf den Istanbuler Flughafen in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch, gilt: Istanbul ist out. Mega-out.
Das betrifft nicht nur die Besucher aus Deutschland, die nicht mehr kommen wollen, auch viele Ausländer, die lange in Istanbul gelebt haben, verlassen die Stadt. Schon als Präsident Recep Tayyip Erdoğan im letzten Jahr die Friedengespräche mit der PKK abbrach und erneut die Bomberstaffeln der Luftwaffe gegen die militanten Kurden losschickte, sagte mir ein Kollege: „Ich habe endgültig die Nase voll. Dieses Déjà-vu mache ich nicht mehr mit.“
Mittlerweile ist aus den Einzelnen, die gingen, ein ganzer Strom geworden. Ihre Gründe sind vielfältig, aber immer geht es auch um die Sicherheit der Kinder, die Repression, die auch vor Ausländern nicht mehr haltmacht, und die Aussichtslosigkeit, was die Zukunft angeht.
Es erscheinen Abschiedsartikel voller Enttäuschung über die Türkei und Istanbul. Die Metropole am Bosporus, einst die hippste Stadt Europas, würde nun zum Armenhaus syrischer Flüchtlinge, die unter der glitzernden Oberfläche der Stadt, ausgebeutet, geschunden und in unmenschliche Arbeitsverhältnisse gezwungen, auf den Müllhalden der Stadt als Leichen wiederauftauchen.
Dazu kommen die ästhetischen und sozialen Zumutungen der Bauwut Erdoğans. Für ihn und die AKP ist Istanbul die zentrale Baustelle des Landes, und zwar ganz wörtlich gemeint. Jeden Monat ruinieren neue Wolkenkratzer die historische Skyline, der zukünftige Großflughafen am Schwarzen Meer ist ein ökologisches Desaster, und die Zufahrten zur dritten Bosporusbrücke zerstören die letzten Wälder im Norden der Stadt.
Im Mahalle gehen die Menschen aufeinander zu
Dennoch liebe ich diese Stadt. Das hat viele Gründe, einer der wichtigsten sind ihre Menschen. Istanbuler reden gern, sind kontaktfreudig und sozial. Es ist richtig, der Terror macht Angst, aber im Mahalle, im Kiez, gehen die Menschen eher noch aufeinander zu, als sich ängstlich abzuschotten.
Die Aggressivität Erdoğans, durch die das politische Leben der Türkei vergiftet wird, ist im Alltag nicht zu spüren. Auch wenn Erdoğan gegen den Westen hetzt und wegen der Armenien-Resolution gegen Deutschland zu Felde zieht, persönlich bin ich als Deutscher nie angefeindet worden. Auch wenn die Mehrheit der Türken Erdoğan wählt, habe ich oft das Gefühl, sie haben ihn eigentlich nicht verdient. So sind die Leute nicht.
Als ich vor 18 Jahren nach Istanbul kam, lag die Stadt praktisch noch im Dornröschenschlaf. Touristen hatten Istanbul noch kaum entdeckt. Wer aus Deutschland nach Istanbul fuhr, hatte persönliche Kontakte zu türkischen Freunden oder Freundinnen oder wollte sich mal abseits der touristischen Hauptrouten bewegen. Dann, innerhalb weniger Jahre, kam der große Hype. Jeder wollte plötzlich nach Istanbul, in der Stadt wurden Hotels hochgezogen und – ähnlich wie später in Berlin – massenweise Wohnungen in Ferienappartements umgewidmet. Die Annäherung an die EU in den ersten Jahren der Erdoğan-Regierung tat ein Übriges, um Istanbul auf die europäische Landkarte zu setzen.
Das ist nun erst einmal wieder vorbei. Aber Istanbul ist eine uralte Stadt, gelebte Geschichte. Großem Glanz folgte oft großes Elend, Istanbul wird auch den Terror und die Herrschaft Erdoğans überstehen.
Am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts war Istanbul schon einmal eine sehr multikulturelle, sehr europäische Stadt. Der Niedergang begann mit der Vertreibung und Ermordung der nichtmuslimischen Minderheiten während des Ersten Weltkriegs und setzte sich in der Republik fort, als die Hauptstadt von Istanbul nach Ankara verlegt wurde. In den 70er und 80er Jahren des letzten Jahrhunderts erstickte die Stadt dann an der Masseneinwanderung vom Land und aus den umkämpften kurdischen Gebieten.
In den Ruinen entstanden Galerien
Erst in den 90er Jahren lebte Istanbul wieder auf, begann sich mit nunmehr 12 Millionen Bewohnern neu zu erfinden. Der wirtschaftliche und kulturelle Aufschwung seitdem war atemberaubend, die Stadt wurde wieder zu einer internationalen, multikulturellen Metropole. Ehemals griechisch-armenische Viertel wie Beyoğlu blühten auf. In den Ruinen entstanden Galerien, Cafés und Jazz-Clubs. Die Kunst-Biennale brachte den Austausch zwischen jungen türkischen und europäischen Künstlern in Gang. Das Istanbuler Filmfestival wurde zu einem festen Bezugspunkt für Cineasten aus aller Welt.
Terrorismus, Islamismus und Nationalismus drohen diesen enormen Aufschwung nun erneut zu zerstören. Ob das tatsächlich geschieht, liegt auch an uns. Ja, es gibt islamistische Zellen, die von der Politik der Regierung zumindest indirekt genährt wurden. Und ja, es gibt das Elend an den Rändern und teilweise auch im Zentrum – aber das sieht man ja selbst in Berlin, Paris oder London.
Istanbul besteht nicht nur aus fanatischen Erdoğan-Anhängern. Im Gegenteil. Die Stadt ist voll von guten Leuten, die unter der islamisch-nationalistischen Politik des „Führers“ leiden und die schmerzlich darauf hoffen, jetzt in Europa nicht vergessen zu werden. Jeder hat die weltoffenen, toleranten, kreativen und lebensbejahenden Istanbuler gesehen, als sie vor drei Jahren den Gezipark und das Zentrum von Istanbul in einen alternativen Entwurf der Türkei verwandelt hatten. Diese Istanbuler sind mit brutaler Gewalt zurückgedrängt worden, aber sie sind noch da. Sie brauchen die Solidarität ihrer Freunde in Europa.
In den 18 Jahren, die ich nun in Istanbul lebe, ist die Stadt zu meiner zweiten Heimat geworden. Ich bin in diesen Jahren oft an der Türkei, an der türkischen Politik, an der Gewalt und auch der Ignoranz vieler Menschen verzweifelt. Es gab immer Momente, in denen ich dachte, jetzt reicht es.
Doch Istanbul hat mich immer wieder eingefangen: ein Plausch morgens im Teehaus, eine Wanderung durch die Altstadt und ein stiller Besuch in der Hagia Sophia, wilde Leidenschaft im Fußballstadion, vor allem aber eine Fahrt mit einer der alten Fähren von Europa nach Asien oder umgekehrt. Wenn die Sonne sich im Bosporus spiegelt und der Blick sich von den Minaretten der alten Sultansmoscheen bis zu den Türmen der neuen Banken erstreckt, ist für mich klar: Istanbul ist unschlagbar.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Das Weihnachten danach
Die Wahrheit
Glückliches Jahr