piwik no script img

Archiv-Artikel

Eine Frage der Motivation

Kleine Soziologie der Erziehung (2): Erziehungsangebote sind mit Zumutungen verbunden. Warum soll man sich ihnen unterwerfen? Nimmt man sie gar nur in Kauf, um sich von den Eltern zu lösen?

Die Renitenz der Schüler bestätigt die Autorität, von der sie sich verabschieden wollen

VON DIRK BAECKER

Wenn die Erziehung als ein eigenes Funktionssystem der Gesellschaft verstanden und ausdifferenziert werden können soll, besteht die erste Aufgabe darin, nach der „Funktion“ zu fragen, die dieses System erfüllt. Unter einer Funktion ist hierbei nicht ein Zweck im Auftrag der Gesellschaft zu verstehen, sondern ein Vergleichsgesichtspunkt, der es der Erziehung erlaubt, ihre eigenen Möglichkeiten so zu bestimmen, dass sie gesellschaftlich anschlussfähig werden.

Die Funktion der Erziehung beziehe sich, so überlegte Luhmann, auf die Personwerdung von Menschen, das heißt auf die Ausbildung der Fähigkeit von Menschen, sich an Kommunikationen zu beteiligen, die in Politik und Wirtschaft, Kunst und Familie, Religion und Wissenschaft, Organisation und Alltag höchst unterschiedliche Ansprüche stellt. In diesen Kommunikationszusammenhängen „Person“ zu sein, heißt, sich durch Selbstidentifikation zu einer Adresse für kommunikative Angebote machen zu können. Die Funktion der Erziehung besteht darin, einen Menschen die Kompetenz erwerben zu lassen, aus sich etwas zu machen, was für andere, für Gesprächspartner, Liebhaber, Arbeitgeber, Patienten, Schüler, Klienten, Leser, Zuschauer und Wähler, auf hinreichend unberechenbare Weise verlässlich ansprechbar ist.

Diese Bestimmung der Funktion ist der erste Schritt zur Einführung von Limitationalität (siehe Teil 1, taz vom 16. 2.). Alles, was der Personwerdung von Menschen dient, fällt in den Zuständigkeitsbereich der Erziehung. Alles, was ihr nicht dient, fällt nicht in diesen Bereich.

Mit diesem ersten Schritt ist gleichzeitig eine zweite wichtige Unterscheidung getroffen, nämlich die Unterscheidung zwischen dem Funktionssystem Erziehung auf der einen Seite und den vielen Organisationen, die sich als Kindergärten, Schulen, Weiterbildungseinrichtungen und Universitäten auf diese Funktion beziehen, andererseits. Nur wenn man diese zweite Unterscheidung trifft, gewinnt man Klarheit darüber, dass die einzelne Organisation in einem selektiven und experimentellen Verhältnis zum Funktionssystem steht. Sie muss sich wie das Unternehmen im Wirtschaftssystem, die Partei in der Politik oder die Kirche in der Religion in ein Verhältnis zum Funktionssystem setzen, das sich als ein tragfähiges Verhältnis jeweils erst noch bewähren muss. Sie muss aber nicht ihrerseits das ganze Spektrum der Funktion erfüllen. Der Punkt ist aufschlussreich, weil die gegenwärtige Verwaltung der Erziehung durch die Politik dazu neigt, von einem Kindergarten, einer Schule oder einer Universität jeweils das volle Programm dessen zu fordern, was sie für Erziehung hält. Wenn man jedoch die Unterscheidung zwischen dem einen Funktionssystem und den vielen Organisationen trifft, darf man davon ausgehen, dass der Erfolg der Erziehung nicht etwa mit dem Erfolg jeder einzelnen Erziehungseinrichtung steht und fällt. Im Gegenteil. Hier sind, weil die Gesellschaft sich ändert, Experimente nötig und möglich.

Nach allen bisherigen Erfahrungen der Soziologie mit dem Forschungsprogramm der Systemtheorie differenziert sich ein Funktionssystem erst dann dauerhaft aus, wenn es ihm gelingt, ein eigenes Kommunikationsmedium zu finden und für die eigenen Zwecke zu bestimmen. Kommunikationsmedien dienen der Transformation unwahrscheinlicher in wahrscheinliche Kommunikation. Auch im Fall der Erziehung ist es mehr als unwahrscheinlich, dass sich ein Mensch, der seine Sinne beieinander hat, Erziehungsangeboten unterwerfen soll, die aus ihm eine Person machen, die er oder sie noch nicht ist. Wie kann man dazu motiviert werden, denn darum, um Motivation, geht es, sich einer solchen Zumutung auszusetzen? Warum sucht man nicht sofort das Weite und verlässt sich stattdessen auf die von niemandem beabsichtigten, sondern sich in der Familie, vor dem Fernseher, auf der Straße und in irgendwelchen Jobs (wenn man das Glück hat) von selber einstellenden Effekte der Sozialisation, um sich in der Gesellschaft durchzuschlagen? Warum soll man sich einer Erziehung stellen, die man selber wollen muss und die von oft unübersehbaren Erziehern beabsichtigt wird, deren Motive nicht zwangsläufig über jeden Verdacht erhaben sind?

Parsons hatte auf diese Frage zwei Antworten. Die erste Antwort verwies mit einem gewissen Hang zur Psychoanalyse auf die Bearbeitung ödipaler Konflikte in der Form einer Rollenasymmetrie zwischen Lehrer und Schüler, die die Schüler dazu motiviert, sich nicht mehr mit den Eltern, sondern alternativ mit dem Lehrer oder mit ihrer peer group zu identifizieren, und die Lehrer im Gegenzug und ziemlich fatal dazu motiviert, sich alternativ mit den Schülern (und deren ödipalen Problemen) oder mit dem Lehrkörper (und dessen Abgrenzungsbedürfnis gegenüber den Schülern) zu identifizieren. Erziehung wird in diesem Zusammenhang von den Schülern zugunsten ihrer Ablösung vom Elternhaus gleichsam in Kauf genommen und von den Lehrern angeboten, indem sie sich auf einen Wissensvorsprung berufen, der sie noch am ehesten von den Schülern unterscheidet, mit denen sie doch ein ganzes Arbeitsleben verbringen.

In der Studentenbewegung der 1960er-Jahre wird diese Rollenasymmetrie zum „storm center“ (Parsons) in der Auseinandersetzung um die Form und Reichweite der universitären Erziehung. Aber auch in Kindergärten und Schulen wird seit Jahrzehnten viel dafür getan, die Autoritätsstruktur dieser beiden aufeinander bezogenen Rollen zu unterlaufen und aufzulösen. Das ist jedoch gar nicht so einfach. Der gute Wille der Pädagogen jedenfalls reicht dazu ebenso wenig wie die Renitenz der Schüler, denn beides bestätigt die Autorität, von der man sich verabschieden will. Vor allem jedoch müsste man, wenn man die Rollenasymmetrie auflösen oder auch nur abschwächen will, das Problem der Motivation zur Erziehung anders lösen. Man kann nicht eine Struktur abschaffen, ohne eine andere an ihre Stelle treten zu lassen, obwohl das Erziehungssystem offensichtlich genau dies seit Jahrzehnten versucht. Jede Struktur schafft nicht nur Probleme, sie löst auch ein Problem. Wenn man auf die Struktur verzichten will, muss man das Problem daher anders lösen.

Teil drei dieser Serie erscheint am kommenden Dienstag. Darin wird sich der Autor mit der zweiten Antwort Parsons’ beschäftigen: Danach ist es der Zugang zur Intelligenz, der zur Annahme von Erziehungsangeboten motiviert