: Eine Familie voller Lebenskünstler
Was Astrid Lindgren für Schweden, könnte Marjaleena Lembcke für Finnland sein. Doch Finnland ignoriert ihre Bücher. Zu ehrlich ist ihr Blick ins finnische Herz. Vielleicht sind ihre Bücher eine Art Landesverrat ■ Von Gabi Trinkaus
Marjaleena Lembcke wurde 1945 in Kokkola geboren. Sie studierte zunächst Theaterwissenschaften und später in Münster Bildhauerei. Der deutsche Nachname verrät, daß sie Finnland verlassen hat. Ihre finnische Kindheit hat sie nicht vergessen. Sie zeigt eine Familie, die sich durch die widrigen Umstände des Lebens kämpft und bei allem Streß niemals aufhört einander zu lieben und zu achten. Sicher kein Zufall, daß das fünfte Kind ganz der Liebe verfallen war. Es liebte Menschen, Tiere, Dinge ohne Unterschied. Doch davon später. Alle fünf Bücher werden von Leena erzählt in einer klaren durchblickenden Art, als wäre das Leben ein finnischer See. Deshalb kann man auch jedes Buch für sich verstehen.
Der finnische Großvater
Früher einmal lebten Großmutter und Großvater auf einem Bauernhof in Karelien. Dann kam der Krieg. Sie flüchteten mit Pferd und Wagen und einem schwarzen, verschlossenen Eichenschrank. Er war schwer, und alle glaubten, daß er einen Schatz beherberge. Während Leenas Eltern die Armut drückte, saß Großvater auf seinem Schatz. Es gab Streit und Großvater zog mit seinem Schrank zu seinem Bruder auf einen Bauernhof.
Jahre später knüpft die kleine Leena das Band neu. Weil der neue kleine Bruder viel Ruhe braucht, verbringt sie mit ihrem älteren Bruder Matti einen Sommer bei dem Großvater. Er ist das Gegenteil von der geschäftigen schlagfertigen Großmutter. Stundenlang können sie zusammen schaukeln und erzählen. Später schreiben sie sich liebevolle Briefe. Der Vater findet ein altes großes Haus. Nun ist auch Platz für den Großvater. Er kommt mit Schrank. Doch erst nach seinem Tod schaut Leena hinein und entdeckt den Schatz: unendlich viele Briefe. So kann sie weiter seinen Gedanken nachspüren, den Reichtum des Alters erben und schaukeln.
„Die Zeit der Geheimnisse“ beginnt sehr optimistisch. Sie sind nun vier Kinder und bauen endlich ein eigenes Haus. „Eigentlich kann ein Arbeiter das nicht bezahlen“, sagt die Großmutter. Der Vater baut es nach der Fabrikarbeit. Die Farbe ist ein Kompromiß. Aus Mutters Preiselbeerrot und Vaters Heidelbeerblau wird violett. So ein Haus hat keiner. Leena findet gleich eine Freundin, Birgit. Ihre Augen sind dunkelbraun, darum bleiben ihre Gefühle immer geheimnisvoll. Leena kann sich nicht vorstellen, jemals Geheimnisse zu haben. Sie, die immerzu redet, wie sollte sie etwas verschweigen.
Sie hat die Prüfung für das Gymnasium bestanden und, obwohl kein Geld da ist, eine rote Schuljacke bekommen. Sie berührt Oskaris Bemerkung, die Jacke sähe aus wie die Weihnachtsmannjacke. In der Schule sitzt sie neben Birgit. Doch hinter ihr sitzt Seppo und kneift. Schließlich droht sie ihm mit ihrem großen Bruder und schreit verzweifelt nach Matti, obwohl er auf eine andere Schule geht. Ein anderer großer Matti fühlt sich angesprochen und hilft ihr.
Sofort verliebt sich Leena in den großen Jungen und möchte nicht länger ein kleines Mädchen sein. Vielleicht sollte sie Philosophin werden? Doch der große Bruder von Birgit winkt ab, nichts für Frauen. Die Großmutter weiß, warum: „Weil Frauen keine Zeit haben, unter Apfelbäumen zu sitzen und sich Gedanken zu machen. Sie müssen Apfelmus kochen.“ Und Leena erkennt sofort, daß Äpfel auch ohne Gedanken schmecken. Man muß halt wissen, was einem wichtig ist.
Die Zeit der relativen Sorglosigkeit wird durch einen Schlaganfall des Vaters beendet. Lange Zeit liegt er im Krankenhaus. Weihnachten naht, und dieses Mal wird es wirklich keine Geschenke geben. Da hat Birgit eine Idee. Gemeinsam klauen sie Weihnachtsgeschenke. Noch nie hatte Leena ein Geheimnis vor ihrer Familie. Es macht sie stumm und krank. Verzweifelt sucht sie nach einem Ausweg. Bis sie wieder weiß, was ihr wichtig ist.
Obwohl in diesem Buch viel von Unglück die Rede ist, zweifelt man doch keinen Augenblick, daß sie es packen werden. Solange die Großmutter ihren herrlichen trockenen Humor behält, kann die Welt nicht untergehen.
Es ist Sommer, und die Liebe geht um. Erst trifft sie Matti und macht ihn krank. Seine Nase scheint aus Hefe und geht jeden Tag etwas mehr auf. Statt Bart sprießen Pickel. Er liebt das schönste Mädchen der Klasse. Leena bemitleidet ihn. Doch dann erwischt es auch sie. Ihre geliebte Deutschlehrerin ist krank. Zur Vertretung kommt ein Professor samt Sohn. Alle Jungen ihrer Klasse finden den Sohn schrecklich, alle Mädchen sind verliebt. Er kann so wunderbar singen. Sie nennen ihn Caruso, obwohl er schon fünf Namen hat. Dann erwischt es ihre Mutter. Sie hat eine Kindertagesstätte gegründet. Sie verliebt sich in den Vater eines Kindes. Er ist Maler. Leenas Vater ist traurig. Die Köchin, die für die fremden Kinder kocht, kann nicht weiterarbeiten. Die Liebe zwingt sie zum Ortswechsel. Die Großmutter schüttelt nur den Kopf. Gut, daß sie immun ist gegen diese Krankheit. Aber wollen wir wirklich immun sein gegen die Liebe?
Ein finnischer Sommernachtstraum
Doch so ein Sommer dauert leider nicht ewig. Zum Schluß sind alle wieder gesund und bewegen sich in ordentlichen Bahnen. Nur Leena bekommt einen Liebesbrief und spürt glücklich, daß es schön ist, ein Mädchen zu sein. Auch als Leser empfindet man das Glück dieser beschwingten, leichten Zeit, wo einfach alles, was passiert, durch das Brennglas der Liebe betrachtet wird – und man noch nicht weiß, daß man sich verbrennen kann. Mit dem Buch „Als die Steine noch Vögel waren“ hat Marjaleena Lembcke ihrem behinderten Bruder ein Denkmal gesetzt. Sind ihre Dialoge auch sonst schon kleine Kunstwerke, so bekommen sie durch den Querdenker Pecca noch mal eine andere Dimension. Pecca, der anfangs lange im Krankenhaus bleiben muß, ist für seine Geschwister etwas Besonderes. Er sieht aus wie ein Frosch, und als er endlich sprechen lernt, weiß man nicht, ist er ein Philosoph oder ein Narr.
Pecca kümmert das nicht. Er wirft Steine in die Luft und erwartet, daß sie fliegen, weil die Steine einmal Vögel waren. Er hat die wunderbare Gabe, alles zu lieben. Die Eltern, die Geschwister, andere Kinder, das Gras und die Wolken – von innen und außen. Er ist wie ein wärmender Sonnenstrahl. Leider wollen die Kinder in der Schule nicht geliebt werden. Sie wehren sich mit Gewalt gegen sein Anderssein. Doch auch hier schafft er es, die richtigen Überrumpelungsworte zu finden.
Die Familie hat neue große Pläne. Fünf Kinder kann man als Arbeiter in Finnland nicht ernähren. Sie wollen nach Kanada auswandern. Schon haben die Hühner englische Namen, das violette Haus ist verkauft, alle Schulden beglichen. Da macht Pecca nicht mit. Der Arzt diagnostiziert Leukämie. Pecca nimmt in der Schule tränenreich zum zweiten Mal Abschied, diesmal für immer. Und statt nach Kanada ziehen sie in ein altes Haus mitten im Wald. Fast wie in Kanada, meint die Großmutter trocken. Doch dann kommt der Arzt mit einer Kuh im Schlepptau und ist sehr verlegen. „Es gibt auch immer andere Möglichkeiten“, verrät Pecca, „und das sind nicht die schlechtesten.“
Dieses Buch mit seiner Mischung aus Tragik und Witz, behutsam und leicht erzählt, verliert sich nicht in schweren Erklärungen. Und die Frage nach dem Sinn könnte niemand besser beantworten als die Großmutter: „Erst mal scheint Pecca nur zu unserer Freude da zu sein.“
Hammerfest ist überall
Das fünfte Buch „Und dahinter das Meer“ erzählt die mittlerweile fünfzehnjährige Leena. Endlich will der Vater seinen Jugendtraum erfüllen. Einmal im Leben nach Hammerfest. Leena erlebt gerade eine traurige Zeit. Sie hatte einen verantwortungsvollen Job und gab ihn nach dem ersten Fehler auf. Sie hat Pickel im Gesicht und der, den sie liebt, schaut sie kaum an. Da lädt sie der Vater ein, im Sommer mit nach Hammerfest zu fahren. Sie besteigt unsicher das klapprige Auto. Soviel Zeit hat sie noch nie mit ihrem Vater allein verbracht. Anfangs vergräbt sie sich hinter Büchern, doch dann kriegt die Sache Schwung. Sie verliebt sich in einen Tramper aus Deutschland, lernt ihre Verwandten kennen und stellt erstaunt fest, daß der Vater schon ein Leben hatte, als es sie noch gar nicht gab. Vaters großes Geheimnis ist nicht länger geheim. Offensichtlich haben auch Erwachsene problematische Zeiten.
Nach soviel genossener Nestwärme möchte man nicht einfach rausgeschmissen werden, also Leena, erzähl weiter!
Marjaleena Lembcke: „Mein finnischer Großvater“, Ill. Maren Briswalter, ab 6 J., 23,80 DM
„Die Zeit der Geheimnisse“, Ill. Klaus Steffens, ab 8 J., 22,80 DM
„Der Sommer, als alle verliebt waren“, ab 9 J., 22,80 DM
„Als die Steine Vögel waren“, ab 12 J., 22,80 DM
„Und dahinter das Meer“, ab 12 J., 24,80 DM. Alle verlegt bei Nagel & Kimche, Zürich/Frauenfeld
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen