■ Eine EU-Verfassung soll Europa davor bewahren, ein bürokratischer Koloß zu bleiben. Aber das ist eine Illusion: Fromme Wünsche, harte Fakten
Es ist paradox: Deutsche und Franzosen haben gleichermaßen Angst vor dem Euro. In Deutschland befürchtet man, daß „die andern“ „uns“ die starke Mark kaputtmachen. In Frankreich sieht man den Euro als Ausdruck deutscher Hegemonie. Keiner traut dem anderen über den Weg. Kaum jemand fragt: „Was wäre gut für Europa als Gemeinschaft?“ Europa benötigt aber ein europäisches Bewußtsein seiner BewohnerInnen. Sonst wird die Integrationsordnung nicht lange bestehen. EU-Nummernschilder werden wohl kaum genügen.
Könnte eine EU-Verfassung den Weg aus diesem Dilemma weisen? Immer wieder findet sich diese Idee auf der politischen Tagesordnung. In letzter Zeit hat Jürgen Habermas in seinem neuen Buch „Die Einbeziehung des Anderen“ (besprochen in der taz am 14. Dezember) dies vorgeschlagen. So könne aus dem bürokratischen Monstrum doch noch eine sinnstiftende, vorwärtsweisende Idee werden. Auch Claus Koch schlug in der taz vom 17. Dezember in diese Kerbe.
Doch die Idee einer EU-Verfassung ist je nach Stoßrichtung kontraproduktiv oder überflüssig – und bestenfalls illusorisch. Kontraproduktiv wirkt die Forderung nach einer Euro-Verfassung, weil sie den impliziten Vorwurf enthält, Europa sei derzeit „verfassungslos“. Selbstverständlich gibt es aber fixierte Regeln, welche Befugnisse der EU konkret zustehen. Und natürlich kann man auch nachlesen, wie EU-Kommission, Ministerrat und Europäisches Parlament jeweils zusammenwirken. Diese Regeln, deren Einhaltung vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg überwacht werden, sind die EU-Verträge, unter anderem der Vertrag von Maastricht. Sie sind die real existierende Verfassung der EU.
Der Form nach sind es völkerrechtliche Abkommen, geschlossen von den EU-Regierungen, ratifiziert von den nationalen Parlamenten und teilweise bestätigt durch Volksabstimmungen. Dazu nur: Es gibt in Deutschland Verfahren und Institutionen, die demokratisch weniger legitimiert sind – etwa die Bundesbank als Hüterin der deutschen Währungsherrlichkeit. Man sollte die europäische Verfassungslandschaft also nicht schlechter machen, als sie ist.
Soweit es um inhaltliche Kritik an den EU-Verträgen geht, ist die Forderung nach einer EU-Verfassung alles andere als zwingend. So enthalten die Verträge aus historischen Gründen zwar viele untergeordnete Regelungen, die nicht in eine Verfassung gehören. Zu denken ist an Details der Beihilfenkontrolle oder der Agrarpolitik. Um hier für Übersicht zu sorgen, braucht die EU allerdings keine Verfassung. Es würde auch eine leichter zu bewerkstelligende redaktionelle Vertragsrevision ausreichen. Die zentralen Bestimmungen der Einzelverträge könnten dabei zu einem Grundvertrag zusammengefaßt werden. Das Europäische Parlament hat dazu schon vernünftige Vorschläge vorgelegt.
Häufig wird auch beklagt, daß den EU-Verträgen noch ein Grundrechtkapitel fehlt. Einstweilen wird der Grundrechtschutz allerdings per Richterrecht durch den Europäischen Gerichtshof gewährleistet – gewiß nicht die schlechteste Lösung. Denn niemand weiß, ob eine verfassungsgebende Versammlung über dieses Richterrecht hinausginge oder dieses dann eher verwässert würde.
Soweit also kein zwingender Grund für eine verfassungsgebende Versammlung. Nötig wäre sie allerdings, wenn die geforderte EU-Verfassung das Signal zur Verselbständigung der Europäischen Union geben sollte. Dies aber wäre gefährlich. Heute erhält die EU ihre Kompetenzen und Finanzen von den 15 Mitgliedsstaaten. Sollte die EU jedoch irgendwann einmal ohne weitere Vertragsänderung neue Aufgaben und Steuern an sich ziehen können, wäre sie endgültig ein eigener Staat. Dies sollte dann tatsächlich durch einen Verfassungsprozeß legitimiert werden.
Doch so weit wollen die wenigsten BefürworterInnen einer EU- Verfassung gehen. Zum einen, weil die Schaffung eines solchen Superstaates derzeit wohl vor allem die weitverbreite Europhobie fördern würde. Schon die Aufwertung des Europäischen Parlaments stößt in England und Frankreich auf Widerstand. Außerdem wäre eine derartige Vertiefung der EU- Integration vor der anstehenden Erweiterung ohnehin wenig plausibel. Sie würde nur die Hürden für einen Beitritt der osteuropäischen Reformstaaten (plus Malta und Zypern) erhöhen.
So bleibt schließlich nur das Argument, daß sich der EU-Verfassungsprozeß an sich bereits stimulierend auf eine gemeinsame europäische Öffentlichkeit auswirken würde. Vielleicht würde er sogar mit einer gemeinsamen europäischen Volksabstimmung abgeschlossen. Viele hoffen, daß Europas BürgerInnen dabei ihre europäische Solidarität entdecken und ein Gefühl gemeinsamer Verantwortung entstünde.
Vermutlich eine Illusion. In Deutschland muß man nur sieben Jahre zurückdenken. Nach der Wiedervereinigung versuchten BürgerrechtlerInnen in Ost und West gemeinsam eine Debatte über eine neue deutsche Verfassung anzuschieben. Es blieb ein gut gemeinter Versuch ohne größere Ausstrahlung. Auch als 50 Jahre zuvor im Parlamentarischen Rat das Grundgesetz entstand, interessierte sich die Bevölkerung fast nur für die Wahl der neuen Hauptstadt. Verfassungsgebung ist, so scheint es, kein Prozeß, der Neugier und Interesse weckt. Eine Verfassungskampagne bindet so Kräfte, die andernorts sinnvoller eingesetzt werden könnten.
Europäische Innenpolitik aber findet jeden Tag statt. Hier haben alle täglich Gelegenheit, europäischer denken zu lernen. Zu lernen, daß wir nicht Lösungen auf Kosten unserer Nachbarstaaten suchen, daß Subventionswettläufe ebenso vermieden werden müssen wie Steuerdumping. Nur wenn Standards für den europäischen Binnenmarkt gemeinsam gesetzt und eingehalten werden, haben wir die Chance, unsere Gesellschaften trotz Globalisierung sozial und ökologisch weiterzuentwickeln.
In der Verantwortung sind vor allem die Volksparteien. Sie betreiben Europapolitik heute verstärkt nach dem Motto: „Wer holt für unser Land am meisten raus?“ Und auch die Medien sind gefragt, da sie dieses Verhalten durch ihre meist auf den nationalen Nutzen fixierte Berichterstattung fördern. Letztlich aber entsteht die europäische Solidarität im eigenen Kopf und durch die internationale Zusammenarbeit sozialer Bewegungen. Christian Rath
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