Eine Aktivistin erzählt: Ein Leben gegen Gentechnik
Lea Hinze ist 28 Jahre alt und hat sich entschieden: Für den Kampf gegen Grüne Gentechnik, gegen ein bürgerliches Leben. Warum sich die Aktivistin dazu verpflichtet fühlt.
Am frühen Morgen des 21. April 2008 klettert Lea Hinze in Gatersleben, Sachsen-Anhalt, durch den aufgeschnittenen Zaun. Am Himmel steht noch ein voller Mond, der Boden unter ihren Füßen ist fest und feucht vom Tau. Unter Gentechnikgegnern gibt es nicht allzu viele, die bereit sind, für den Kampf gegen die Grüne Gentechnik ihre Zukunft aufs Spiel zu setzen. In dieser Nacht sind es genau sechs. Lea Hinze ist nicht nervös. Was nun passiert, hat sie nächtelang geplant und vorbereitet, diskutiert und durchgespielt. Trotzdem wird sie sich später vor allem an das Adrenalin erinnern, die Aufregung und den Schreck, als der Schäferhund zu bellen beginnt. Auf dem Feld hebt sie wie die fünf anderen ihre Rübenhacke und trennt noch nicht ausgereifte Weizenähren von den Halmen, Reihe für Reihe.
Dreißig Minuten später dämmert es und Lea Hinze sitzt in einem Polizeibus auf dem Weg zur Polizeiwache in Aschersleben. Sie gibt ihren Personalausweis ab und verweigert die Aussage. Sie ist zufrieden. Das Feld des Forschungszentrums IPK, auf dem gentechnisch modifizierter Winterweizen angebaut wurde, ist verwüstet, der Versuch nicht auswertbar. Sie hat eine Straftat begangen und gegen eine Reihe von Gesetzen verstoßen. Sechs Jahre Forschungsarbeit sind vergebens und Lea Hinze, 28 Jahre alt, wird vermutlich die nächsten dreißig Jahre von einem Existenzminimum leben müssen - das erwartbare Ergebnis eines Straf- und eines Zivilprozesses mit Schadenersatzklagen im sechsstelligen Bereich und einer langen Kette aus Offenbarungseiden.
Die Kampagne "Gendreck weg", zu der Lea Hinze gehört, organisiert im Voraus angekündigte, öffentliche "Feldbefreiungen". Routinemäßig erwartet die Aktivistengruppe dann auf dem Feld eine etwa gleich große Gruppe von Polizisten. Die Aktion in Gatersleben war nicht angekündigt und geschah in der Nacht. Anders als bei den bisherigen Aktionen gab es keine große Gruppe, sondern nur sechs Aktivisten, die sich wochenlang auf diesen Tag vorbereitet hatten. Diesmal war der Erfolg wichtiger als die Ankündigung.
Lea Hinze, sowieso schon sehr schlank, wirkt in ihrem knöchellangen blauen Baumwollkleid elfenhaft zerbrechlich. Die Kulisse ihres Alltags ist ein Schloss aus dem 19. Jahrhundert mit abbröckelnder Farbe an den Wänden und einer Vielzahl an Baustellen. Sie lebt mit ihrem zweijährigen Sohn und 55 anderen Menschen auf Schloss Tonndorf, einer Kommune in Thüringen. Hier arbeitet sie als Bäckerin, Kräutergärtnerin und Zimmerin.
Auf dem Schloss ist Lea Hinze Gleiche unter Gleichen, eine Art Vorsitzende eines Ältestenrates - nur dass sie erst 28 ist. Lea kennt sich aus, sie ist pragmatisch, ihr Rat und ihre Hilfe sind gefragt. Bevor sie auf eine Frage antwortet, vergeht ein Augenblick. Dann spricht sie langsam, sehr klar und ohne die winzigste Hoffnung auf Unsicherheit aufkommen zu lassen. Würde sie vielleicht morgen beim Kinderprogramm ihre Kräuter vorstellen? Weiß sie, wo die Holzreste hingekommen sind? Kann sie bis morgen bitte noch den Versammlungsraum zum zweiten Mal streichen? Sie kann.
Lea Hinze tunkt die Malerrolle in die Farbe. Ihre Aktivistinnenkarriere begann harmlos mit einem Greenteam in der Schule. "Wir haben, wie alle anderen, Eingaben geschrieben und gewartet und gehofft, und wenn nichts passiert ist, haben wir brav die nächste Eingabe geschrieben." Irgendwann auf dem Weg zwischen Greenteam und Genacker muss Lea Hinze beschlossen haben, mit dem Bravsein aufzuhören. Sie machte eine Lehre als Zimmerin und ging drei Jahre als Gesellin auf Wanderschaft. Mittlerweile kann sie mit Motorsäge, Hammer und Axt umgehen, backt jede Woche vierzig Brote und redet vor vollen Sälen über Grüne Gentechnik. Gibt es etwas, womit sie Schwierigkeiten hat? Lea überlegt. Sie steht über den Farbeimer gebeugt, regungslos, die Farbe tropft von der Rolle in den Eimer. Irgendwann sagt sie: "Mir fällt gerade nichts ein."
Winterweizen, ein Sammelbegriff für Arten der Gattung Triticum L., ist nach Mais das meistangebaute Getreide der Welt. Seit sechs Jahren arbeitet die Biologin Winfriede Weschke im IPK Gatersleben, dem Leibnitz Institut für Pflanzengenetik und Kulturpflanzenforschung daran, den Eiweißgehalt von Weizen gentechnisch zu erhöhen. Den Laborversuchen folgte vergangenes Jahr ein erster Freilandversuch. Der dieses Jahr zum zweiten Mal angebaute Weizen hätte den "Proof of Concept" geliefert, den Beweis dafür, dass der Proteingehalt des Weizens gentechnisch gesteigert werden konnte. Die diesjährige Ernte wäre ein Meilenstein auf dem Weg zur Zulassung gewesen.
Winfriede Weschkes Forschungen gelten als erfolgreich - und umstritten. Denn das Feld, auf dem der genetisch veränderte Winterweizen angebaut wurde, liegt nur 500 Meter entfernt von Europas größter Datenbank für Kulturpflanzen. Eine Auskreuzung der genetisch veränderten Pflanzen, die zusätzlich zu den erwünschten Merkmalen teilweise mit einer Antibiotika- und Totalherbizidresistenz ausgestattet wurde, wird von Mitarbeitern des IPK ausgeschlossen, gilt unter Gentechnikgegnern aber als möglich. Ende 2006, kurz vor der ersten Aussaat, sammelten Mitarbeiter des Umweltinstituts München über 30.000 Unterschriften gegen den Freilandversuch und schickten sie an die Genehmigungsbehörde. Die Eingaben sorgten für Furore im Ministerium. Bundesumweltminister Seehofer setzte sich schließlich persönlich für den Versuch ein, schlug jedoch vor, die Versuchsfläche um ein paar Kilometer zu verlegen.
Seit der ersten Feldbegehung, am Vormittag des 21. April, dem trostlosen Anblick der zertrampelten Reihen und abgeschnittenen Halme, fühlt man im IPK tiefe Bitterkeit. 162.000 Euro Drittmittel seien im vergangenen Jahr in das Winterweizenprojekt geflossen, dazu die Eigenmittel des IPK. Der Widerstand gegen die Gentechnik, glaubt Winfriede Weschke, entstehe aus Unkenntnis und Angst in der Bevölkerung. "Wir verwenden ein schwieriges Vokabular, noch dazu für hochkomplexe Vorgänge. Man kann von der Bevölkerung nicht erwarten, dass sie verinnerlicht, was wir eigentlich machen." Winfriede Weschke empfindet die Aktion der Gentechnikgegner als radikal. Wer hinter der Zerstörung steckt, interessiert sie nicht. "In diesem Land gelten Gesetze", sagt Winfriede Weschke, "wer die nicht respektiert, handelt kriminell."
"Radikal" ist ein Adjektiv, mit dem Lea Hinze gut leben kann. Die Aktivisten von "Gendreck weg" halten es sich zugute, dass sie den Konflikt um die Grüne Gentechnik an die Öffentlichkeit geholt und zugespitzt haben. "Das ist es wert, der Buhmann zu sein." Mit "es" meint Lea Hinze den Hausfriedensbruch, die Sachbeschädigung, Gerichtsprozesse, die sie nun durchstehen muss. "Gesetze kann man ändern. Wenn der veränderte Weizen auskreuzt, hat das unabsehbare Folgen für die Umwelt und die ganze Menschheit." Die Aktivisten verweisen gerne auf den Rechtfertigenden Notstand, Artikel 34 des Strafgesetzbuches. Kann eine höher zu bewertende Gefahr durch eine Straftat abgewendet werden, gilt sie nicht als rechtswidrig. In keinem der bisher ausgehandelten Prozesse um Gentechnik wurde diese Argumentation von einem Richter übernommen.
"Das Thema Genweizen ist in der deutschen Forschungswelt vom Tisch", schätzt Andreas Bauer-Panskus vom Münchener Umweltinstitut. Für Lea ein Triumph, für Winfriede Weschke eine persönliche Tragödie. Für sie steht jetzt schon fest, dass der modifizierte Winterweizen im kommenden Jahr nicht aufs Neue ausgesät werden wird - dieses Projekt wird keinen Geldgeber mehr finden.
Lea Hinze ist dabei, eine eigene Existenz zu gründen. Auf der Südseite des Schlosses, im ehemaligen Burggraben hat sie Kräuter angebaut: Thymian, Oregano, Ananassalbei, Bohnenkresse, Frauenmantel, Minze, Majoran, andere sammelt sie wild. Auf dem Dachboden eines der Nebengebäude zerschneidet sie frische Brennnesseln und legt sie zum Trocknen auf bespannte Rahmen. Staub flimmert im Gegenlicht. Lea Hinze wird in den nächsten Monaten damit beginnen, ihre Kräutertees zu vermarkten und eine luftentfeuchtende Trockenanlage zu bauen.
"Exklusive Aktion" nennt Lea Hinze die nächtliche Feldzerstörung - weil nur wenige davon gewusst haben und noch weniger dabei waren. Dass ihre Gruppe klein ist, stört Lea Hinze nicht. "Die meisten Menschen sehen sich nicht in der Lage, zu machen, was wir gemacht haben." Obwohl sich zuweilen Aufopferungsrhetorik in ihre Sätze schleicht, will sich Lea Hinze nicht als Märtyrerin verstanden wissen, wohl aber als Heldin. "Märtyrer leiden", sagt sie, "wir leiden nicht." Lea Hinze setzt sich die Kiepe auf, in die sie ihre Kräuter sammeln wird, und nimmt die Rübenhacke auf die Schulter - dieselbe, mit der sie vor einigen Wochen das Gaterslebener Feld zerstört hat.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Bis Freitag war er einer von uns
Elon Musk und die AfD
Die Welt zerstören und dann ab auf den Mars
Anschlag in Magdeburg
Der Täter hat sein Ziel erreicht: Angst verbreiten
Bankkarten für Geflüchtete
Bezahlkarte – rassistisch oder smart?
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Tarifeinigung bei Volkswagen
IG Metall erlebt ihr blaues „Weihnachtswunder“ bei VW