: „Eindeutig ein politischer Prozeß“
■ Der Journalist Pawel Scheremet saß in Weißrußland zehn Wochen im Gefängnis – wegen einer Recherche an der Grenze. Jetzt soll er vor Gericht
Pawel Scheremet ist Korrespondent des russischen Fernsehsenders ORT in Weißrußland und stellvertretender Chefredakteur der oppositionellen Tageszeitung „Belorusskaja delovaja Gazeta“. Anfang letzter Woche wurde er aus der Haft entlassen.
taz: Seit einigen Tagen sind Sie wieder frei. Wie fühlen Sie sich?
Pawel Scheremet: Erst jetzt fange ich langsam an, mich wieder im normalen Leben zurechtzufinden. Vor drei Tagen habe ich mich mit meinem Wagen total in Minsk verfahren, und das, obwohl ich die Stadt sehr gut kenne. Ich mußte anhalten und fragen, wie ich ins Zentrum komme. Ich erlebe jetzt aber auch viel Solidarität. Auch ganz fremde Leute bleiben auf der Straße stehen und wollen sich mit mir unterhalten. Einmal kam jemand auf mich zu, gab mir die Hand und gratulierte mir.
Hatten Sie damit gerechnet, daß Lukaschenko Sie festnehmen lassen würde?
Ich war schon seit einigen Monaten moralisch darauf vorbereitet, verhaftet zu werden. Immer mehr Leute, die an Demonstrationen teilgenommen haben, kamen in den letzten Monaten in den Knast. Daß der Anlaß meiner Verhaftung allerdings so primitiv und idiotisch sein würde, hatte ich nicht gedacht.
Was hat Ihrer Meinung nach den Ausschlag für Ihre Freilassung gegeben?
Erstens: Meine Familie, meine Freunde und meine Kollegen haben mich während dieser Zeit massiv unterstützt. Zweitens: die harte und entschlossene Haltung des russischen Präsidenten Boris Jelzin und des Fernsehsenders ORT. Wenn die russische Führung nicht so aufgetreten wäre, hätte ich wohl noch lange gesessen.
Moskau war bisher in seiner Kritik an Lukaschenko eher zurückhaltend. Glauben Sie, daß sich die russische Führung so engagiert hätte, wenn Sie nicht ORT- Korrespondent gewesen wären?
Natürlich hat es eine Rolle gespielt, daß ich bei ORT war. Aber schon Ende August, Anfang September hat das Rußland eigentlich nicht mehr interessiert. Nachdem Alexander Lukaschenko zum wiederholten Male die Ehre und Würde von Boris Jelzin verletzt hatte und das auch noch offen demonstrierte, wurde meine Befreiung für Jelzin zu einer Frage des Prinzips. Und Rußland verzeiht es nun einmal nicht, sich von einem Land wie Weißrußland erniedrigen zu lassen.
Wie wird sich dieser Vorfall auf die russisch-weißrussischen Beziehungen auswirken?
Die Beziehungen werden schwieriger werden, sowohl für Jelzin als auch für Lukaschenko. Für Lukaschenko deshalb, weil er das Vertrauen von Jelzin verspielt hat. Jetzt wird es für ihn schwerer werden, Wirtschaftshilfe aus Rußland zu bekommen. Viele Russen, die bislang von Lukaschenko wenig wußten, begreifen ihn nun als einen gefährlichen Politiker. Das ist aber auch ein Problem für Jelzin. Denn Lukaschenko wird in einigen Jahren versuchen, Oberhaupt der weißrussisch-russischen Union zu werden.
In drei bis vier Wochen steht Ihre Gerichtsverhandlung an. Womit rechnen Sie?
Wahrscheinlich ist eine Bewährungsstrafe. Genau weiß ich das nicht, denn jetzt sind noch neue Anklagepunkte hinzugekommen. Die ursprüngliche Anklage lautete auf illegalen Grenzübertritt. Jetzt geht es auch noch um die Überschreitung meiner dienstlichen Befugnis als Direktor des Minsker ORT-Büros, die Beeinträchtigung der Interessen Weißrußlands, die Verbreitung unwahrer Informationen über die Bewachung der weißrussischen Grenze sowie die Diskreditierung der Arbeit der weißrussischen Grenztruppen. Das beweist, daß es sich hier eindeutig um einen politischen Prozeß handelt.
Letzten Umfragen zufolge würden viele Weißrussen Sie auch gerne in der Politik sehen. Welche Pläne haben Sie für die Zukunft?
Mit ORT ist vereinbart, daß wir zunächst den Ausgang des Prozesses abwarten. Allerdings besteht der Sender darauf, daß ich hier in Minsk auch weiterhin offizieller Direktor seines Büros bleibe. Sollte sich die Regierung darauf nicht einlassen, werde ich in einem von Weißrußlands Nachbarländern arbeiten. Vielleicht gehe ich auch wirklich in die Politik. Genau habe ich darüber noch nicht nachgedacht. Ich habe es mehrmals im Gefängnis versucht, aber ich konnte nicht. Da denkst du nur die ganze Zeit daran, wie du da drin überlebst und wann du wieder rauskommst. Interview: Barbara Oertel
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