piwik no script img

Ein spezielles Paar

Wenn er nicht um Mitternacht im Dritten versendet würde, hätte Tim Boehmes Dokumentarfilm „Heimreise“ alles, um ein Publikumsliebling zu werden. Im Stile eines Buddy-Road-Movies erzählt er mit perfekter Dramaturgie die Geschichte von zwei Freunden mit Diagnosen auf der Suche nach der Mutter des einen

Zwei Freunde auf Tour Foto: NDR/TOB Filmproduktion / Tim Boehme

Von Wilfried Hippen

Vielleicht sei er ja „geklont und gar kein richtiger Mensch“: Solche Gedanken macht sich der 38-jährige Bernd Thiele, denn Vater und Mutter oder andere Verwandte hat er nie kennengelernt. Die Mutter hatte ihn ins Heim abgegeben. Und sie war auch verantwortlich für seine geistige Behinderung.

Weil sie schwanger Alkohol getrunken hatte, kam er mit einer Gehirnschädigung zur Welt, die FASD, auf Deutsch Fetale Alkohol Spektrum Störung, genannt wird. Bernd Thiele hat infolge des Syndroms weder lesen noch schreiben lernen können. Doch er lebt und arbeitet auf einem Bio-Bauernhof in Schleswig-Holstein und hat sein Leben im Griff, wäre da nicht diese Leere, die ihn unglücklich macht. Zusammen mit seinem besten Freund mit dem beeindruckenden Namen Joann Natanael Zeylmans von Emmichoven, der ebenfalls geistig beeinträchtigt ist, macht Bernd Thiele sich auf eine Reise, um seine Familie zu finden.

Der Filmemacher Tim Boehme kannte ihn von einem früheren Filmprojekt. Seine Recherchen waren der Grund dafür, warum die beiden sich auf eine abenteuerliche Fahrt zuerst nach Hamburg und dann nach Berlin gemacht haben. Der Dokumentarfilmer ist hier also nicht nur Beobachter, sondern auch Initiator des Geschehens.

Doch als stiller Strippenzieher hält er sich im Hintergrund oder besser gesagt hinter der Kamera. Helden seines Films sind die zwei Freunde. Und die beiden ergänzen sich ideal: Bernd ist ein Grübler, der sich auf seine eigene Weise sehr gut artikulieren kann, wenn er etwa die philosophischen Grundfragen stellt: „Wer bin ich, wo komme ich her und wo gehe ich hin?“

Joann ist dagegen ein Tatmensch, der lesen und schreiben, ein Handy bedienen und eine Adresse in einer fremden Stadt finden kann. Die beiden sind auch komisch miteinander. Aber nicht, weil man über ihre Behinderungen und ihren vermeintlich engen Horizont lacht, sondern weil sie sich zusammen eine ganz eigene, poetische Welt geschaffen haben, die ihren eigenen Sinn ergibt. Und man merkt, wie vertraut sie miteinander sind, gerade weil sie sich ständig streiten und jeweils genau den Schwachpunkt des anderen kennen. Die 97 Minuten des Dokumentarfilms werden so nie lang, auch wenn „nur“ erzählt wird, wie zwei Männer nach Berlin reisen und dort ein paar Menschen treffen.

Denn Bernd findet tatsächlich in Berlin seine Familie und auch wenn seine Mutter seit vielen Jahren tot ist, wird er liebevoll aufgenommen und weiß nun, wo er herkommt. In „Heimreise“ wird Inklusion wirklich ernst genommen. Die beiden, die sich selber „Betreute“ nennen, werden eben nicht bevormundet, sondern sie sind für sich selber verantwortlich. Der Film zeigt, wie sie Fehler machen, Glück und Pech haben, wie sie Schwierigkeiten überwinden und die Reise genießen. Auch wenn Tim Boehme mit seiner Kamera immer in der Nähe war, erleben sie ein großes Abenteuer, dessen Dramaturgie so gut funktioniert als wäre dies ein Buddy-Road-Movie, der zu einem Publikumsliebling werden könnte.

Diese Chance bekommt ein kleiner deutscher Dokumentarfilm aber nicht. Im Oktober war ursprünglich ein Kinostart geplant. Jetzt wird „Heimreise“, der vom NDR koproduziert wurde, nachts um Mitternacht „versendet“. Immerhin wird er aber in die ARD-Mediathek zu sehen sein.

„Heimreise“ läuft am 24. 11. um 0.00 Uhr im NDR Fernsehen

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen