■ Ein neues Buch bringt Dokumente von 1966 bis 1968 aus der revolutionären Welt: Für Kind und Kegel: Archiv der Revolution
Hier ist sie fast ganz. Die revolutionäre Stimmung von damals. Die Sehnsüchte, die Kämpfe, die Gewalt, die Lustigkeit und auch der Haß.
Lutz Schulenburg hat mit gewaltigen Anstrengungen das Archiv einer Epoche angelegt, in der Europa protestierte. Es ist ein großartiges Zeitenbild geworden. Abbild einer Wirklichkeit, die aus einer tiefen Vergangenheit als Buch kompakt herübergrüßt in unsere unrevolutionäre Gegenwart.
Schulenburg behauptet zwar in seinem Vorwort, das sei alles noch wahnsinnig gegenwärtig, nichts habe sich geändert und der Kampf gehe weiter... Aber gerade weil das sicher nicht stimmt und beim Lesen nichts so deutlich wird wie die fast schon unwirkliche Ferne dieser Texte, ist dies Buch so wertvoll: als Zeitkonserve, als Archiv, als Museum und als großes Vergegenwärtigungskunstwerk einer ungegenwärtigen Zeit.
„Mitte der sechziger Jahre gab's dann so eine Aufbruchstimmung, jedenfalls haben wir so etwas verspürt. Dann haben wir den Club Voltaire gegründet in Stuttgart. Da wurden Tabus gebrochen, da fing man schon an, Dinge zu tun, die bis dahin schlechterdings verboten waren. Oder die einfach Tabu waren“, heißt es in einem sehr schön unprätentiösen Text von Willi Hoss.
Oder die Notizen Dieter Kunzelmanns zur „Gründung revolutionärer Kommunen in den Metropolen“, wo es heißt, daß „Zukunft für uns die Machbarkeit der Geschichte bedeutet“ und daß „die Entfaltung der menschlichen Wesenskräfte nur dann möglich sein wird, wenn die ganze Welt aus den Angeln gehoben wird“. Schließlich wird freundlich bekannt: „Unsere Praxisvorstellungen können zur Zeit nur als diffus bezeichnet werden.“
Auch eine spätere Vernehmung beim Staatsanwalt ist abgedruckt, bei der er gefragt wird, was er beruflich machen wolle, und Kunzelmann antwortet: „Augenblicklich mache ich Kommune.“ Im Flugblatt der Kommune I, das den Ausschluß aus dem SDS besiegelte, heißt es: „Vögelt nicht im Henry-Ford-Bau“ und „Nur die rationale Diskussion verhindert allgemeine Kopulation“. Man hatte mit K I und SDS unterzeichnet, ohne dies mit dem SDS abgesprochen zu haben. Folge: Ausschluß. Keine Kompromisse.
Oder es wird berichtet, daß die Kommunarden bei der Nachricht vom Attentat auf Rudi Dutschke in schallendes Gelächter ausbrachen, weil man ihn in diesen Kreisen „naiv, bieder und spinnerig“ fand.
Außerdem gibt es Berichte von Betriebskämpfen in Barcelona und von revolutionären Fließbandarbeitern zu lesen, entsetzliche Neusprechvorschriften irgendwelcher Kulturrevolutionäre, Befehle von deutschen Lateinamerikakomitees („Es ist die Pflicht der Völker Lateinamerikas, die Revolution zu machen“), den „Brief einer jugoslawischen Genossin, die viel weiß“ („Ich liebe uns alle“) und Flugblätter gegen Adorno- Vorlesungen („Also: Adorno findet nicht statt, aber die Revolution“).
Vom „Zentralrat der umherschweifenden Haschrebellen“ ist diese prima Sentenz: „Nun haben wir uns bewußtseinserweiternder Mittel bedient und sehen, daß uns unser Bewußtsein überholt hat...“
Und ein „Aktionskomitee der Fußballer“ („Der Fußball den Fußballern!“) rief zur Besetzung der Zentrale des französischen Fußballverbandes mit diesen Worten für die Ewigkeit auf: „Alle zusammen werden wir wieder aus dem Fußball das machen, was er immer hätte bleiben sollen: der Sport der Freude, der Sport der Welt von morgen, die alle Arbeiter angefangen haben aufzubauen.“ Volker Weidermann
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