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Ein internationales Experiment

Jahrtausendelang zogen Menschen als Jäger und Sammler durch die Landschaft, bis sie plötzlich sesshaft wurden. So lautete lange die Erzählung vom Beginn der Zivilisation. Neue archäologische Funde zeichnen ein deutlich komplexeres Bild

Göbekli Tepe ist das bekannteste Bauwerk aus dem Neolithikum Foto: imago

Von Birk Grüling

Vor rund 12.000 Jahren endete die letzte große Eiszeit. Das Klima wurde wärmer, die Gletscher zogen sich zurück und die Landschaften wandelten sich. Aus eisigen Tundren und Mammutsteppen wurden fruchtbare Ebenen und Wälder. Die großen Tiere der Eiszeit verschwanden, an ihre Stelle traten kleinere Vertreter. Mit all diesen klimatischen Veränderungen begann auch ein tiefgreifender Wandel im Leben der frühen Menschen. So tiefgreifend, dass in der Wissenschaft lange von einer „neolithischen Revolution“ gesprochen wurde – der Sesshaftwerdung der Menschen.

Inzwischen ist der Begriff verpönt, da er eine ruckartige Entwicklung nahelegt. Tatsächlich handelte es sich um einen viele tausend Jahre dauernden Wandel mit zahlreichen Keimzellen. Der Ausgangspunkt bleibt jedoch gleich. „Nach dem Ende der Eiszeit wurden die Ressourcen neu verteilt. Ohne die großen Beutetiere brauchten die Jäger und Sammler neue Nahrungsperspektiven“, erklärt Eva Rosenstock vom Institut für Archäologie und Kulturanthropologie der Uni Bonn. Eine dieser neuen Nahrungsquellen waren Meere, Flüsse und Seen. An den fruchtbaren Ufern fanden die Menschen alles, was sie brauchten, und ließen sich nieder.

Doch das Leben am Wasser war nur ein Faktor. Auch Wildgetreide und Hülsenfrüchte wie Linsen oder Saat-Platterbsen wurden zu wichtigen Nahrungsquellen. Diese Pflanzen wuchsen im wärmeren Klima besonders gut. Tiere wie Ziegen oder Wildschweine waren verlässliche Fleischlieferanten – und damit ein Grund, in einem Gebiet zu bleiben. „Inzwischen gehen wir davon aus, dass Sesshaftigkeit keine re­gio­nal beschränkte Idee war, sondern vielmehr ein großflächiges Phänomen mit vielen verschiedenen Auslösern und Ausprägungen“, sagt Rosenstock.

Aus der Levante stammen zum Beispiel Spuren der rund 12.000 Jahre alten Natufien-Kultur, eine der frühesten halbsesshaften Gemeinschaften. Ihre Mitglieder lebten in festen Häusern, legten Vorräte an und begruben ihre Toten am Rand der Siedlungen – und blieben dennoch Jäger und Sammler. Die ältesten Spuren von wilden und bereits halbdomestizierten Getreidevorläufern in Siedlungen sind über 11.000 Jahre alt. Gleichzeitig zogen noch immer Gruppen von Jägern und Sammlern umher. Zwischen diesen „Lebensentwürfen“ gab es regen Austausch, von Handel über Liebschaften bis zu gemeinsamen Begräbnisritualen.

Die meisten Funde stammen aus dem sogenannten fruchtbaren Halbmond – einer Region, die vom heutigen Israel über den Libanon und Südosten der Türkei bis in den Irak und Iran reicht. Hier wurden Menschen vermutlich erstmals – unabhängig voneinander – sesshaft. Das belegen archäologische Funde wie Steinwerkzeuge, Tonfiguren, Gebäudereste und zahlreiche Mörser und Mahlsteine. Sogar erste Monumentalbauten wurden hier errichtet, wie zum Beispiel Göbekli Tepe, einer der ältesten Tempel der Menschheit. Vor etwa 11.000 Jahren stellten Menschen dort riesige T-förmige Kalksteinsäulen auf, arrangiert in Kreisen und verziert mit Gravuren von Menschen und Tieren. Die Bauleistung war enorm – und ohne Vorräte, Unterkünfte und Fachleute mit spezialisierten Fähigkeiten kaum denkbar. Einer der Entdecker, der inzwischen verstorbene Klaus Schmidt, vermutete daher, dass nicht nur Nahrung die Menschen an einen Ort band, sondern auch Rituale, Feste oder das Gedenken an Verstorbene. Sesshaftigkeit entstand also möglicherweise nicht nur, weil Menschen mussten – sondern auch, weil sie wollten.

Mindestens genauso spannend wie die Ursprünge ist die Verbreitung der Sesshaftigkeit innerhalb des fruchtbaren Halbmonds und darüber hinaus. „Dank zahlreicher neuer Funde gelingt es uns inzwischen, ein ziemlich genaues Bild von Migration und damit verbunden auch von Wissenstransfer zu zeichnen“, sagt Barbara Horejs, Direktorin des Österreichischen Archäologischen Instituts.

Gemeinsam mit anderen Forschenden hat sie eine Karte mit frühen Siedlungen entwickelt – und mit jedem neuen Fund wird sie erweitert. Darauf wird deutlich: Die Kulturtechniken der Sesshaftigkeit breiteten sich Stück für Stück über den Mittelmeerraum aus – über Landrouten ebenso wie über Seewege. Das zeigen neue Ausgrabungen nahe Izmir in der Westtürkei. Dort liegt Çukuriçi Höyük, eine der frühesten bekannten Siedlungen der Ägäis. Bereits vor fast 9.000 Jahren verbanden die Menschen dort Fischfang, Muschelsammeln und erste Formen von Landwirtschaft. „Die Funde legen nahe, dass die Menschen aus der nördlichen Levante über den Seeweg in die Ägäis kamen und sich niederließen. Sie brachten Haustiere wie Rind, Schaf, Ziege und Schwein mit – und Techniken wie die Aussaat und das Herstellen von passenden Steinwerkzeugen“, erklärt Horejs.

Mit kleinen Unterbrechungen breitete sich die Idee der Sesshaftigkeit immer weiter aus. Nach Mitteleuropa kam der Ackerbau über die Balkanroute entlang von Flusstälern – und das deutlich früher als bisher angenommen, wie neue Funde aus Serbien zeigen. Dort entdeckten Horejs und ihr Team ein über 8.000 Jahre altes rechteckiges Haus mit gut erhaltenen Wandresten, Vorratsräumen und Getreidelagern. Es wird der Starčevo-Kultur zugeschrieben und gilt als eines der ältesten Zeugnisse dauerhaft sesshafter Lebensweise in Europa. „Anders als im fruchtbaren Halbmond sehen wir in Europa kaum Übergangsphasen, sondern ein abruptes Auftauchen von sesshaften Gemeinschaften. Das spricht für einen starken Wissenstransfer dank Migration“, erklärt die Archäologin.

„Inzwischen gehen wir davon aus, dass Sesshaftigkeit keine regional beschränkte Idee war“

Eva Rosenstock, Archäologin

Auch das sei eine Erkenntnis, die zeige, wie komplex der Prozess der „Neolithisierung“ eigentlich war. Immerhin mussten sich die eingewanderten Menschen auf ganz andere klimatische und ökologische Bedingungen einstellen als im Halbmond. Aussaatabfolgen oder Nutztierhaltung mussten immer wieder neu ausprobiert und angepasst werden. In Serbien fanden die Forschenden zum Beispiel Reste von vielen kultivierten Getreidearten und Hülsenfrüchten. Das spricht dafür, dass die Menschen Sorten aus ihrer Heimat mitbrachten und den Anbau ausprobierten. Ähnliches gilt auch für Nutztiere wie Rinder. Auch Kulturfolger wie die Hausmaus sowie Parasiten und Krankheitserreger waren mit im neolithischen „Gepäck“.

„Auf diese frühen Entwicklungen und Migrationsströme geht vieles aus unserem alltäglichen Leben zurück. Umso wichtiger ist es, mehr darüber zu erfahren“, betont die Archäologin Barbara Horejs. Besonders viele offene Fragen gibt es noch zum Sozialleben und den Strukturen der Gesellschaft. In den Siedlungen im Balkan lebten die Menschen vermutlich anders als an der Ägäis – gleichzeitig brachte die Einwanderung auch neue kulturelle Impulse. Wie diese ausgesehen haben, ­darüber lässt sich bisher nur spekulieren.

Zum Glück mangelt es der Archäologie nicht gerade an möglichen Fundorten. Im Balkan, an der Ägäis, vielleicht auch in Nordafrika gibt es noch viele Spuren des Neolithikums zu entdecken. Sie könnten unser Bild von der Sesshaftwerdung weiter verändern – und zeigen, wie vielfältig die Wege in ein Leben mit Haus und Herd wirklich waren.

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