: Ein angeschossenes Land
Eine drastische Erhöhung der Benzinpreise löste im August die größte Protestwelle in Birma seit fast zwanzig Jahren aus. Bis zu 100.000 Zivilisten schlossen sich den von Mönchen angeführten Protesten gegen das seit 1962 herrschende Militärregime an. Ende September wurden sie von der Militärjunta brutal niedergeschlagen. Laut Staatsfernsehen wurden dabei 2.927 Menschen festgenommen, zudem räumte die Regierung zehn Tote ein. Dissidenten gehen jedoch von mehr als 10.000 Festgenommenen und mindestens 200 Toten aus.
Westliche Regierungen erhöhten den politischen und wirtschaftlichen Druck auf das Land, China hingegen – wichtigster Waffenlieferant Birmas – lehnt es ab, sich diesem anzuschließen. In dieser Woche erlaubte die Militärjunta Birmas dem UN-Menschenrechtsgesandten Paolo Sergio Pinheiro überraschend die Einreise im November. Bereits 1988 war eine große Demokratiebewegung brutal niedergeschlagen worden. 1990 ließ die Junta zwar Wahlen zu, den Sieg der Oppositionspartei „Nationale Liga für Demokratie“ von der Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi erkannte sie jedoch nicht an.
90 Prozent der 54 Millionen Einwohner Birmas haben weniger als einen Dollar täglich zum Überleben. Die 500.000 buddhistischen Mönche sind abhängig von Almosen; durch die Preissteigerungen ist die Bevölkerung immer weniger in der Lage, ihnen etwas zu spenden. Über den Namen des Staates wird gestritten. Im Englischen hieß die ehemalige britische Kolonie Burma, die Deutschen und Franzosen wandelten die Bezeichnung in Birma ab. 1989 beschloss die Militärjunta die Namensänderung in Myanmar – wie das Land bereits vor seiner Kolonisierung im Jahr 1885 hieß. Die USA und birmesische Oppositionelle weigern sich, diesen Namen zu benutzen: aus Protest gegen die Militärregierung.
Kathleen Fietz
Eigentlich sollte es ein Urlaub sein. Doch dann schlägt die Militärjunta in Birma den friedlichen Protest der Bevölkerung nieder. Und aus der Reise wird ein Trip durchs Ungewisse
VON BERT SCHULZ
Langsam gleiten am dem Zugfenster goldene Pagoden und Reisfelder vorbei. Weit ist die Landschaft, erst satt grün, später geht es in die Berge. Der Zug wackelt, schaukelt fast, und kriecht die Strecke voran. Es dauert eine Weile, bis die Menschen im Abteil mit uns warm werden, mit uns, den beiden Touristen aus dem Westen in einem Zug voller Einheimischer. Erst nach etlichen Stunden lächeln einige verlegen in unsere Richtung. Am Morgen bietet uns unser Nachbar köstliche Nüsse an und hilft uns bei der Auswahl des Essens, das ein fahrender Händler bringt. Keine der rot glänzenden Saucen und gegrillten Fische hatten wir je zuvor probiert. Bei einem Halt schenkt uns die Frau gegenüber eine Kette aus Jasminblumen. Sie soll Glück bringen. Nach ihrem Vorbild binden wir die zart duftende Kette über uns ans Gepäcknetz.
Insgesamt einunddreißig Stunden zieht sich diese Fahrt von Rangun, Birmas wichtigster Stadt, bis zu einem kleinen Touristenort nahe des Inlesees in Zentralbirma. Der See, die schwimmenden Bootsmärkte darauf und die Einbeinruderer sind eine der touristischen Hauptattraktionen des südostasiatischen Landes. Dort wollen wir hin. Doch als wir ankommen, ist aus dem Urlaub etwas anderes geworden. Was genau, ist uns bis heute nicht klar.
Es war zehn Uhr morgens, als wir in Rangun in den Zug stiegen. Mittwoch, der 26. September – der Tag, an dem die Militärjunta die seit Wochen andauernden Proteste ein für alle Mal unterbinden will. Zwei der Demonstrationen gegen die jüngsten, staatlich verordneten Benzinpreiserhöhungen, das Militär und letztlich gegen das gesamte Regime hatten wir in Rangun miterlebt. Meist liefen dabei buddhistische Mönche durch die Straßen, hielten Schilder mit ihren Forderungen oder auch nur ihre Fahne hoch, riefen etwas, das wir nicht verstanden. Sie wurden begleitet und beklatscht von einer freudig lachenden, aber auch noch ungläubig wirkenden Menge am Straßenrand.
Am Montag hatten uns Teilnehmer noch mitten rein in die Demonstration gezogen, glücklich, dass wir sie so besser fotografieren können. Tags darauf war die Masse auf bis zu hunderttausend Menschen angewachsen und zog durch Ranguns Innenstadt, ausgelassen vom Wechsel träumend. Wir standen daneben und waren beeindruckt. Ein schönes symbolhaftes Bild: Der Gewaltfreiheit verpflichtete Buddhisten protestierten gegen Generäle, deren Macht auf Terror gegen die Bevölkerung, Ausbeutung der Rohstoffe und Korruption beruht. Wenn die Welt dies sähe – müsste das nicht zusammen mit dem Druck im Innern ausreichen, um das Militär zu stürzen?
Doch am Mittwoch ist plötzlich alles anders: Nur wenige Stunden nach unserer Abreise feuern Soldaten in die friedliche Menge aus Mönchen, politischen Aktivisten, einfachen Bürgern. Am Schluss sind, nach offiziellen Angaben, zehn Menschen tot. Unzählige werden verprügelt, von Tränengas und Gummigeschossen verletzt, verhaftet. Wir sitzen im Zug und tuckern durch ein angeschossenes Land – ohne etwas von der Eskalation zu wissen. Erst am Donnerstag erzählt uns der Hotelier von den Toten. Wir sind entsetzt über die Brutalität. Aber irgendwie passt das ja auch in das Bild, das wir von dem Staat haben. So sieht also eine Militärdiktatur aus.
Angsterregend wird es am folgenden Morgen. Die Regierung habe das Internet abgeschaltet, sagt der Hotelier. Wie kann das globale Netz einfach weg sein? Wir wollen es nicht glauben. Aber es stimmt: In den Internetcafés des Touristenorts sitzen die frustrierten Betreiber, spielen Gitarre oder lesen die beliebten Fußballzeitungen, die hier so umfassend über die europäischen Liga-Spiele informieren wie kein Blatt in Europa. Die Schlagzeile: Wie es in der englischen Premier League aussieht. „Es geht nichts“, sagen sie, „gar nichts.“ Später, nach unserer Rückreise, lesen wir, dass dem Regime anscheinend eine Premiere gelungen ist: Zum ersten Mal hat eine Regierung das Internet landesweit vollständig unerreichbar gemacht.
Unsere Nachrichtenlage ist schon zuvor absurd gewesen: Nach der Dienstagsdemo in Rangun hörten wir abends mangels Alternativen – es gibt in Birma keine frei Presse, zudem ist die aus Kringeln und Kreisen bestehende Schrift für uns nicht entzifferbar – im Hotelzimmer auf unserem kleinen Weltempfänger die Nachrichten der BBC. Ein Korrespondent berichtete, was sich am Nachmittag ereignet hatte. Er saß in Singapur, hunderte Kilometer und mehrere Landesgrenzen entfernt, und wusste mehr als wir, die wir direkt danebengestanden hatten.
Die Empfangsqualität von BBC nimmt stetig ab, wir reisen nun vollends im nachrichtenleeren Raum. Im Rest der Welt berichten die Medien über die blutige Unterdrückung des Protests, deutsche Fernsehsender zeigen ein Video, wie ein japanischer Journalist in Rangun von einem Soldaten regelrecht hingerichtet wird. Die Süddeutschen Zeitung titelt am Donnerstag: „Birmas Soldaten schießen auf Mönche“. Und tags darauf: „Schüsse auf Wehrlose“. Die taz fragt auf ihrer Titelseite: „Wer schützt die Mönche?“
Wer schützt uns, mögen sich unsere Freunde und Familien fragen – wir haben keinen Kontakt nach Deutschland, wissen nichts von deren Sorgen um uns. Am Sonnabend versucht einer der Internetcafébetreiber, eine kurze Mail über seine private Adresse an unsere Eltern zu verschicken – das ginge, obwohl das Netz tot sei, sagt er. Wie das funktionieren soll, ist uns rätselhaft. „Wenn sie [gemeint ist das Regime] die gelesen haben, dann geht die Mail raus“, verspricht er uns.
Der Vater meiner Freundin klärt uns in seiner Antwort über die drakonischen Strafen auf, die auf Fotografieren und Teilnahme an einer Demo stünden (mehrere Jahre Haft), wovon wir ja sicher nichts wüssten – womit er recht hat. Doch lesen werden wir die Nachricht erst nach der Rückkehr nach Deutschland – da erfahren wir auch, dass unsere Mail ankam. Sie war das letzte Lebenszeichen für die nächsten drei Wochen. Wenn wir mehr gewusst hätten, vielleicht hätten wir uns entschieden, auszureisen. Aber eigentlich sollte das ja Urlaub sein. Also machen wir eine Bootstour über den wie gemalt still liegenden Inlesee und kaufen eine Ladung Papierschirme als Souvenir.
Auf der Weiterreise, bei einer fünftägigen Fahrt mit einem Fährschiff über den Irrawaddy, die über zweitausend Kilometer lange Lebensader des Landes, erreichen uns weitere Gerüchte. Während wir an sanften Hügeln und Dörfern aus Bambushütten vorbeigleiten, hören wir von Razzien des Militärs, bei denen ganze Klöster leergeräumt werden; von Erschießungen auf offener Straße im Schutz der nächtlichen Ausgangssperre, die für die beiden Städte gilt. Bewohner berichten, hunderttausend Menschen seien vom Militär verhaftet worden; später steigt die Zahl auf mehr als eine halbe Million Regimegegner, die in Knäste und Lager gebracht worden seien. Ist das glaubhaft? Ist es rein logistisch möglich, in zwei Wochen so viele Menschen abzuführen? Wie viel Brutalität darf man einem Terrorregime zutrauen?
Ein Tourist erzählt uns, die meisten Fluggesellschaften bedienten Rangun nicht mehr und dass am Flughafen die Filme und Speicherchips der Touristen einkassiert würden. Wir überlegen uns, wie man sie wohl hinausschmuggeln könnte. In den Sohlen der Wanderschuhe vielleicht, wenn man ein kleines Geheim-Fach hineinschneiden würde?
Auf dem beengten Fährschiff, dessen zwei Unterdecks vollgestopft sind mit Passagieren auf billigen Plätzen und Säcken mit Reis, Kraut und Zwiebeln, machen wir auch zum ersten Mal Bekanntschaft mit Spitzeln der Junta. Auffallend häufig werden wir von mehreren Männern mit dicken Uhren angequatscht, wohin wir wollten und was wir schon erlebt hätten. „Glaubt nicht, dass ihr hier irgendwann unbeobachtet seit“, haben uns andere deutsche Touristen gewarnt. Wir sind inzwischen eine Seltenheit, nur noch wenige Reisende sind im Land, und neue kommen nicht mehr, da das Regime keine Visa mehr ausgibt. Dass wir beide Journalisten sind, haben wir verschwiegen; erst aus Angst, keine Visa zu kriegen; später aus Furcht, ausgewiesen zu werden.
Die Männer mit den dicken Uhren beobachten uns, wenn wir bei den Stopps an Land gehen und Essen kaufen. Sie stehen in der Nähe, wenn wir uns mit Einheimischen unterhalten. Wir überlegen uns, ob es den Birmesen schaden könnte, wenn wir mit ihnen reden, obwohl es fast nie um Politik geht. Wir überlegen, ob uns bei den Zielen zuvor jemand aufgefallen ist, der uns anscheinend freundlich fragte oder doch nur aushorchte. Wir fragen uns, wem man noch trauen kann. Und ob wir so langsam paranoid werden und uns selbst den Urlaub versauen.
Mandalay ist Start- und Zielpunkt der Schifffahrt. Die Stadt war das zweite Zentrum der Proteste und der Repression. Jetzt wirkt sie ruhig, an einigen Ecken stehen Soldaten – es sind weniger als erwartet. Doch was nachts passiert, bleibt Spekulation. Zwischen 22 und 5 Uhr herrscht Ausgangssperre.
Kurz nach 21 Uhr kommen zwei gutgekleidete Männer in die dunkle Kneipe, in der wir zusammen mit anderen Touristen essen. Es ist nicht besonders gemütlich, man sitzt auf Plastikstühlen in verblichenem Weiß und Rosa, in einer Ecke hat der Besitzer sein Motorrad geparkt. Die beiden, um die dreißig, bestellen sich Bier und kommen mit der Gruppe Touristen ins Plaudern. Für sie sind wir die sichersten Gesprächspartner – unwahrscheinlich, dass die offenkundigen Westler im Dienst des Regimes stehen. Trotzdem ist erstaunlich, wie schnell die beiden Männer – der eine Arzt, der andere Anwalt, also obere Mittelschicht – die politische Lage ansprechen. Sie wirken erleichtert, einmal über ihre Wünsche und Hoffnungen reden zu können. Eigentlich wollen sie nur, sagt der Arzt, dass es den Menschen in dem Land endlich besser geht – es gehört zu den zwanzig ärmsten der Welt. Und, so der Arzt weiter, sie wollen offen darüber reden können, wie die Politiker des Landes dies schaffen könnten. Diese Wünsche zu äußern, würde wohl für einen Gefängnisaufenthalt reichen. Deswegen ducken sich beide jedes Mal weg und schweigen, wenn ein Gast von draußen hereinstürmt. Zum Glück kommen nicht viele.
Im Fernsehen in der Ecke laufen seit einer dreiviertel Stunde die staatlich kontrollierten Nachrichten. Sie berichten in epischer Breite über eine Demonstration vermeintlich staatstreuer Bürger und hoher Repräsentanten der wichtigen Nationalitäten in dem Vielvölkerstaat. In einer Stadt im Nordosten hätten mehrere zehntausend Menschen ihre Unterstützung für das Regime bekundet. Bei der Kundgebung in einem Stadion, so die stoisch ablesende Sprecherin, priesen acht Repräsentanten die Errungenschaften des Regimes.
Viele Birmesen lachen nur noch über Meldungen wie diese. Sie hören BBC oder den US-amerikanischen Sender Voice of America – in der Landessprache. Kleine Weltempfänger gibt es für zwei bis drei US-Dollar überall zu kaufen, manche nutzen sie sogar ohne Kopfhörer.
Doch Protestkundgebungen wie diese gegen den Aufstand der Mönche finden seit Anfang Oktober in den meisten größeren Städten Birmas statt. Die Teilnahme daran ist nicht freiwillig, jedes Haus, teilweise jede Familie muss eine bestimmte Zahl an Teilnehmern stellen – oder eine Geldbuße zahlen, die mehrere Tageslöhne betragen kann. Und nicht nur das. Er habe weitere Repressionen wie mehrtägige Zwangsarbeit gefürchtet, berichtet einige Tage später ein Restaurantbesitzer im Südwesten des Landes, der zwei Stunden mit dem Bus zu einer solchen Demo kutschiert wurde. Sich zu verweigern, habe er sich nicht getraut. Die Angst der Menschen ist spürbar, und auch ihre Ohnmacht.
Drei Wochen nach dem Blutbad in Rangun scheint sich auch die Lage in der Fünfmillionenstadt normalisiert zu haben. An den Ständen auf den Bürgersteigen der Innenstadt wird wieder Essen, Kleidung und der Rest des täglichen Bedarfs verkauft. Die Militärkontrollen auf den Straßen sind weitgehend verschwunden, die Ausgangssperre ist auf vier Stunden reduziert – und auch die Shwedagonpagode, Birmas zentrale Tempelstätte und Sammelpunkt der Mönche während der Aufstände, ist seit Anfang Oktober wieder geöffnet.
Doch etwas ist anders. So sind die meisten Händler auf den Straßen vor der Pagode verschwunden. Während hier vor einem Monat noch lebendiges Treiben herrschte, Essen, Reliquien und Opfergaben angeboten wurden, herrscht nun Ruhe, kontrolliert von Soldaten. Nicht alle sind sofort als solche erkennbar; sie haben ihre Uniform ausgezogen und tragen teils zivil, doch die Schlagstöcke und Gewehre liegen griffbereit. Die meisten buddhistischen Klöster rund um die Anlage wirken wie ausgestorben, vor einigen stehen Militärangehörige mit MPs im Anschlag. Was mit den Mönchen passiert ist, wissen wir nicht. In der Stadt sehen wir nur noch selten welche.
Etwas ist auch unverändert: Ausgerechnet auf dem Tempelgelände sprechen uns kurz nacheinander zwei Mönchen freundlich an – mit beiden hatten wir uns auch schon vor drei Wochen unterhalten, just hier vor der fast einhundert Meter hohen, mit unglaublich viel Gold bedeckten Stupa, einen Tag bevor die Militärjunta die Menge zusammenschießen ließ. Und wie damals wollen die beiden Mönche wissen, wo wir waren, was wir gesehen haben, wie unser Eindruck von dem Land ist – was man halt von Touristen so wissen will.
Genervt von der Ausfragerei, stelle ich schließlich die Gegenfrage: „And did you have a good time lately?“ Die Antwort kommt schnell und hastig: „Oh yes.“ Er soll eine gute Zeit gehabt haben, während um ihn herum vermutlich tausende seiner Glaubensbrüder und -schwestern verschwanden, verprügelt oder erschossen wurden? Hat er die Frage falsch verstanden?
Am Tag darauf verlassen wir das Land. Die Ausreise verläuft problemlos, die Filme dürfen wir behalten. Eine gute Stunde dauert der Flug von Rangun nach Bangkok, raus aus der nachrichtenleeren Luftblase. Kurz darauf werden wir mit Meldungen über Birmas Ausnahmezustand überschüttet.
BERT SCHULZ, Jahrgang 1974, Redakteur im taz-Berlinteil, reiste mit seiner Freundin vom 24. September bis 19. Oktober durch Birma