Nebensachen aus Kairo: Ein Volk von Experten
■ Was Erdbeben mit ägyptischen Familienbeziehungen, der Scheidungsrate und Flüchen zu tun haben
Kairo (taz) – „Hast du's gestern gespürt?“ fragte mich mein Onkel Kamal kürzlich am Telefon. Und fachmännisch fügt er am anderen Ende der Leitung hinzu: „Das war ein Nachbeben und erreichte Vier Punkt Zwei auf der maqias richter“, der nach oben offenen Richterskala. In den Abendnachrichten hätten sie es berichtet. „Ich habe gleich gemerkt, daß es über Vier sein muß.“
Man muß vielleicht erwähnen, daß mein pensionierter Onkel weder in seinen jungen Jahren Geologie studiert hat noch einen Seismographen neben dem Telefon stehen hat. Wie 54 Millionen andere ÄgypterInnen hat er sich inzwischen zu einem echten Erdbebenspezialisten gemausert. Das Wort „Richterskala“ zergeht den meisten nur so auf der Zunge. Japanische und kalifornische Erdbebenstudien liegen hoch im Kurs des Tagesgespräches.
Als das erste große Erdbeben vor über einem Monat die ägyptische Hauptstadt erschütterte, da war ein Erdbeben nur etwas, was man aus den Katastrophenbildern des Fernsehens kannte. Mit den Hunderten von kleineren Nachbeben gehört es inzwischen zum Alltag der ÄgypterInnen, das Glas im Fensterrahmen klirren zu hören.
Die Geschichten rund um das ägyptische Erdbeben-Desaster sind vielschichtig. Die Tausenden von Obdachlosen, die zum Teil immer noch in Zelten leben, und die tägliche Angst, daß das baufällige eigene Haus doch noch bei einem der Nachbeben in sich zusammenfallen könnte, sind nur eine Seite der Medaille. Wie sooft bei Schicksalsschlägen in diesem Land, versucht man auf ägyptische Art das Ganze kollektiv mit einem Schuß Sarkasmus aufzuarbeiten. Eine der beliebtesten Erzählungen ist die Geschichte von einem Drogendealer, der aus dem Gefängnis dem Polizisten, der ihn verhaftet hatte, einen freundlichen Brief zukommen ließ. Er wollte ihm seinen Dank dafür ausdrücken, daß er noch lebe und daß er nun ein Dach über dem Kopf habe. Wenige Minuten nach seiner Festnahme hatte das Beben sein Haus dem Erdboden gleichgemacht.
Auch die Familie, das Herz der ägyptischen Gesellschaft, ließ die Naturkatastrophe nicht ungeschoren. „Familienbeziehungen sind wie Häuser. Wenn sie ohnehin schon baufällig waren, dann sind sie durch das Beben eingestürzt“, analysiert ein Psychologie-Professor der Kairoer Ain-Schams Universität. Scheidungsrate und Erdbeben scheinen in unmittelbarer Korrelation zueinander zu stehen. Die Minute des Erdstoßes war für viele Familien die Minute der Wahrheit.
Die Klatsch-Zeitung Sabah Al-Kheir hat einige dieser tragischen Fälle zusammengetragen. Da war zum Beispiel der Ehemann und Vater, der es bevorzugte, das Videogerät zu schultern, und dabei keine Hand mehr für seine Kinder frei hatte. In ihrer Panik ließen Männer ihre Frauen in der Küche stehen, und Frauen überließen ihre Ehemänner dem Schicksal in der Badewanne. Als man sich dann Minuten später mit dem gesicherten Videogerät auf dem Arm oder mit dem kaum die Blöße bedeckenden Handtuch um die Hüften auf der Straße wiedertraf, war die Scheidung bereits meistens ausgesprochen. In manchen Fällen gelang es den Nachbarn noch einmal, Frieden zu stiften. Aber, so fragt sich Sabah Al-Kheir: „Werden sie den Vorfall jemals vergessen; sie, die sich bei so vielen anderen Gelegenheiten ins Ohr geflüstert haben, daß sie niemals ohne den anderen leben können?“
Auch Witze und Flüche werden zeitgemäß angepaßt. Als ich eine Woche nach dem Erdbeben mit dem Taxi unterwegs war, wurde uns von einem jener begnadeten Rennfahrer in seinem jugendlich halsbrecherischen Überschwang der Weg abgeschnitten. Der Taxifahrer drückte aufs Gas, bis er mit seinem Gegner auf gleicher Höhe war. Durchs offene Fenster warf er dann befriedigt seinem erstaunten Gegenüber ein kurzes „Allah yasilsilak“ – Allah möge dich erdbeben – an den Kopf. Karim El-Gawhary
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