Ein Ort für Exilkunst: Suchen. Finden. Weitersuchen
Thomas B. Schumann sammelt Werke von Künstler*innen, die von den Nazis ins Exil getrieben wurden. Sie stapeln sich in seiner Wohnung.
In Besuchen steckt Suchen. Und in Versuchen auch. Thomas Schumann hat es getan, erst besucht, dann gesucht. So hat er die letzten 55 Jahre verbracht und ist zum Sammler geworden – von Briefen, Büchern, Lebensgeschichten und Bildern. Jetzt versucht er, sein Suchen wieder zurück zu verwandeln in etwas, das wie Besuchen sein wird. Er will ein Museum. Damit andere sehen können, was er gefunden hat.
Alles beginnt Mitte der 60er Jahre, als Schumann 15 Jahre alt ist und in Kilchberg am Zürichsee Ferien macht mit seinem Vater, der gerne Musiker wäre, aber Ingenieur ist und seiner Mutter, die Hausfrau ist, aber gerne Medizinerin wäre. In Kilchberg hat Thomas Mann mit seiner Familie gelebt, nachdem er aus dem Exil in den USA zurück nach Europa ging. Nicht nach Deutschland ging er, sondern in die Schweiz. So blieb dem Schriftsteller zumindest die Sprache.
Zehn Jahre nach Manns Tod 1955 ist Schumann also in dem idyllischen Ort und will auf den Friedhof. „Ich wollte Thomas Manns Grab sehen“, sagt er. Seine Sätze sind nie besonders lang. Er steht in seiner Wohnung in Köln, die wie das Archiv einer Galerie aussieht. Statt Worten sind hier Bilder. Sie sind überall in der Wohnung. Sie hängen an den Wänden, stehen auf den Stühlen, lehnen gegen die Rückenpolster der Sofas und Sessel. Wer darauf Platz nehmen will, muss vorne auf die Kante rutschen. Die Rückenlehne ist besetzt.
Die Bilder stehen auch aufgereiht vor den Bücherregalen, entlang des Treppengeländers und vor der alten Vitrine. Um das Teegeschirr seiner Mutter herauszuholen, müssten sie weggeräumt werden. Aber Wegräumen stört die Ordnung. Normale Tassen aus dem Küchenschrank tun es auch. Die Küche ist der einzige Ort, der nicht als Bilderraum dient, obwohl dort nicht gekocht wird. Schumann kocht nie.
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Das Grab von Thomas Mann sei schlicht, und nachdem Thomas Schumann – der Gleichklang der Namen ist wie ein Band – lange genug auf den Stein geschaut hatte, wollte er auch noch zum Haus des Schriftstellers. Nichts hätte ihn stoppen können. Und als er vor der Alten Landstraße 39 direkt am Zürichsee stand, sei er den Aufgang hoch und habe geklingelt. Was genau er denn da wollte? „Oh, das weiß ich genau.“ Wenn er spricht, hat seine Stimme gegen Ende jedes Satzes diese rheinische Hebung, ein Singen. Als die Bedienstete öffnete, fragte Schumann, ob er ein Autogramm haben könne.
Von einem Toten?
Eine Ewigkeit sei er vor der Haustür gestanden, erzählt er. Dann ging sie erneut auf und das Hausmädchen überreichte ihm ein Buch, die „Buddenbrooks“-Erstauflage, mit Widmung von Katia Mann, Thomas Manns Frau, die damals schon über achtzig war und die er bei einem zweiten Besuch wirklich kennenlernt. „Wie schade, dass der Tommy nicht mehr lebt“, soll sie zum Abschied zu Schumann gesagt haben. „Ja, schade“, sagt der in seiner Kölner Wohnung, „dann wäre ich vielleicht noch in einer Novelle aufgetaucht als Knabe.“ Er sagt es mit schelmischem Schwanken in der Stimme, als wäre es vermessen, eine Anspielung auf Manns Vorliebe für Jünglinge zu machen.
„Vielleicht“, unterbricht er die Erzählung, „ist es an dieser Stelle wichtig zu wissen, dass ich schon als Kind alles gesammelt habe.“ Ansichtskarten, Autogramme, Streichholzschachteln, Matchboxautos, Steifftiere, „Sachen halt“, sagt er. Und später, als er älter ist, Teenager ist, auch altes Zeug, „alte Schwarten, Weltgeschichten, die wurden mir geschenkt“.
Schon als Kind habe er Ausstellungen in seinem Zimmer gemacht mit den gesammelten Sachen. „Ich habe tatsächlich 50 Pfennig Eintritt verlangt.“ Dass er eigen war, ist ihm klar. „Ein Außenseiter“, sagt er, „da war das mit der Sammelei“, sagt er, „ja, manchmal denke ich, vielleicht wäre es besser normal“. Schallplatten der Beatles, der Stones, Doors, Animals und so standen, als er Jugendlicher war, nicht auf seiner Liste. Die liefen im Zimmer seines Bruders, des Rebellen, der später tragisch erstickte, nachdem er sich an etwas verschluckt hatte.
Schumann führt in sein Arbeitszimmer – er wohnt im Haus seiner Eltern. Auf seinem Schreibtisch steht ein Computer, drumherum kistenweise Papiere und Bücher, haushoch gestapelt. Zu den Regalen, die hinterm Tisch stehen, gelangt nur, wer mager ist. Da, genau in diesem Moment, sagt er wie zur Entschuldigung: „Man könnte sagen, ich sei ein Papiermessi“, und ergänzt mit zaghaftem Lachen, dass Journalisten so einen Satz, klar, gerne hören, sofort aufschreiben, am Ende gar zur Überschrift machen. Schumann ist vom Fach, er hat selber als Journalist gearbeitet, bevor er Kunstsammler und Buchverleger wurde.
Hinter dem Schreibtisch steht ein schwerer, großer Schrank, dessen Türen nur geöffnet werden können, wenn der Stuhl davor zur Seite geschoben wird. „Mein Allerheiligstes.“ Seine ganze Korrespondenz mit all den Menschen, die er bei seiner Suche gefunden hat, liegt darin. Angefangen mit Katia Mann. Er holt das Buch aus dem Schrank, das sie ihm vor 55 Jahren gab. Es hat einen vergilbten Papiereinband. Er schlägt es auf, liest „Für Thomas Schumann, mit allen guten Wünschen, Katia Mann“. Es ist wie Liebe.
Nicht ausgeschlossen, dass Schumanns Leben ohne die Begegnung mit Katia Mann anders verlaufen wäre, dass er angefangen hätte, Oldtimer zu sammeln, Antiquitäten, Armbanduhren, Porzellanvasen. So aber wurden es Briefe und Bücher. Signierte Erstausgaben. Er nahm Kontakt auf mit Schriftstellern, zuerst mit Leuten wie Frisch, Dürrenmatt, Böll. Dann wurde sein Suchtrieb auf diese andere Spur gelenkt, auf Autoren und Autorinnen, die Deutschland wegen der Naziverfolgung verlassen mussten, er suchte sie, die überall auf der Welt verstreut waren, schrieb ihnen, besuchte sie. Viele, erzählt er, hätten ihm gesagt, dass er der erste Deutsche nach dem Krieg sei, der sich bei ihnen melde. Er, Thomas Schumann, ein Teenager aus Köln. „Dass ich so Fortune hatte.“
Versehentlich überlebt haben
Er hat bei seiner Suche viele getroffen und zu jeder und jedem gibt es einen Halbsatz. Irmgard Keun: „Die hab ich im Krankenhaus besucht. Sie war doch schwere Alkoholikerin.“ Elias Canetti: „Der empfing mich, obwohl er Interviews damals nur noch verweigerte und sich immer als sein Bruder ausgab.“ Walter Mehring traf er in der Bar des Theaters in Zürich, er sei sehr verbittert gewesen. Viele andere kommen dazu. Auch Günther Anders, der „für Thomas Schumann von einem versehentlich Überlebenden“ als Widmung in ein Buch schrieb.
Unzählige Erstausgaben hat Schumann so gesammelt, Bücher, die man nirgendwo mehr bekommt. Bücher, die ihn glücklich machen, mit Widmungen, die ihm signalisieren: Wir sind. Ihr, die Verlorenen, und ich, der Finder.
Im Neubau des Jüdischen Museum in Berlin hat Liebeskind, der Architekt, Räume einbauen lassen, die leer sind, zu denen es keinen Zugang gibt. Sie stehen für die Lücke, die die Geschichte gerissen hat, stehen für das Was-wäre-wenn. Was wäre, wenn all die Menschen, die umgebracht wurden oder ins Exil gingen, in Deutschland hätten weiter leben können? Wie hätte das die deutsche Kultur beeinflusst? Was wäre anders in unserer Gegenwart? Thomas Schumann versucht, diese leeren Räume doch irgendwie zu füllen. „Es geht nicht um Exil, es geht um kulturelle Werte, die weg sind“, sagt er, „diese Leerstelle vervollständigt im Nachhinein, was die Nazis wollten“. Und er sagt noch: Für die, die ins Exil gingen, gebe es kein Denkmal. Einzig die leeren Räume.
Nach dem Abitur hat Schumann Geschichte und Literatur studiert. „Exil kam in keiner Vorlesung vor.“ Noch bevor er einen Abschluss macht, arbeitet er als Journalist, schreibt fürs Feuilleton der Jüdischen Allgemeinen, der FAZ, der NZZ, der Zeit. Dem, was mit Exil zu tun hat, gibt er Raum. Das Schicksal der Leute berührt ihn. Dass viele kein Bein mehr auf den Boden bekamen, als sie in fremden Ländern mit ihrer Sprache hockten, die niemand dort brauchte. Dass viele gucken mussten, wie sie sich über Wasser halten. „Und dass das, was sie vor ihrer Emigration in Deutschland veröffentlicht hatten, auch weg war.“
Zuerst sammelt er Bücher
Vor zwanzig Jahren denkt sich Schumann, der, wie um sich selbst zu verankern, in der Zwischenzeit seinem Mittelnamen mehr Raum gibt und sich fortan Thomas B. Schumann nennt, er könne doch einen Verlag machen, manche dieser Bücher wieder herausbringen und tut es dann. Nicht nur Bücher, auch Freundschaften seien entstanden. Zu Judith Kerr etwa, sie lebte sehr zurückgezogen in England. Auch Elisabeth Mann Borgese wurde zu einer Freundin. „So eine dolle Frau. Dass sie mal mit einem Gorilla zusammengelebt hat, das habe ich allerdings nicht erlebt.“ Er hat ihre völlig vergessenen Erzählungen wieder herausgebracht. Nicht viele der ins Exil gezwungenen Künstler und Schriftsteller, die Schumann kennenlernt, leben heute noch, so wie Walter Kaufmann, der sich nach der Flucht in Australien als Seemann verdingte. 96-jährig wohnt er immer weiter schreibend in Berlin.
„Memoria“ heißt der Verlag übrigens.
Irgendwann überkommt es Schumann: „Dann will ich auch mal ein Bild.“ Eins von einem ins Exil gezwungenen Künstler. Sein erstes ist von Hein Heckroth. Ein Stillleben, in verwaschenen Herbstfarben, Blumen in einer Vase, daneben eine Weinflasche. Alles hängt ein wenig in der Luft, ist ungeerdet, flüchtig, wie die heimatlose Existenz. Heckroth war mit Bert Brecht, Kurt Weill und Kurt Schwitters befreundet und wurde im Exil viel hin und her geworfen. Sichere Häfen? Fehlanzeige.
Schumann führt durch sein Haus, zeigt da auf ein Bild, dort, und auf das daneben auch. Landschaftsbilder und Menschenszenen aus vielen Zufluchtsländern, Indien, Südamerika, Italien, Asien. Es gibt Porträts ernst blickender Menschen, ihre Nacktheit muss nicht in Aktbilder gekleidet werden. Dazu Stillleben, die meist das Karge zeigen. Da, ein Porträt, er hat es ganz neu erworben von Ludwig Meidner. Der Künstler war untergetaucht in Köln und später in London Leichenwäscher. Ein anderer, Albert Reuss, fristete in England in einem Ort namens Mousehole ein Leben in bitterster Armut und malte Bilder der Einsamkeit. Ein Dritter, Rudolf Lewy, anerkannter Künstler erst, dann Flucht, am Ende malt er versteckt in Florenz. Zwei SS-Männer geben sich als Kunstsammler aus, besuchen und verschleppen ihn. Wo er ermordet wurde, wisse niemand, sagt Schumann.
Fast 800 Werke besitzt er inzwischen. Jeder Künstler, jede Künstlerin hat eine Geschichte. Von Flucht, Deportation, Verrat, Suizid, Hunger, Verzweiflung. Es sind Lebenswege, die sich oft auflösen im Nichts. „Diese Schicksale, da kann man doch nicht wieder zur Tagesordnung übergehen“, sagt Schumann. Jeden Monat werde ihm ein neuer Name zugetragen. Von Freunden werde er manchmal „hiesiger Gurlitt“ genannt, „aber einer im Verborgenen“, sagt Schumann, „und ich habe alles redlich erworben“.
Bilder sind seine Gefährten
Die Bilder geben seinem Leben Farbe, sagt er. In Zeiten, in denen er sehr belastet gewesen sei, als seine Eltern krank und alt waren und er sie pflegte, da hätten sie ihm sehr gutgetan. Das Wesentliche sei für ihn, Dinge zu retten. Durch Sammeln retten. Vor dem Vergessen retten. Die Sammlung als Ort, fast eine Verpflichtung. „Ja, zwischendurch habe ich meine Melancholie. Das geht aber wieder weg beim nächsten Kauf.“
Thomas B. Schumann
Auktionen waren Schumann lange unheimlich, aber im Nachverkauf, wo das, was nicht versteigert wurde, verkauft wird, hat er anfangs viele Arbeiten erworben. „Die Künstler waren gänzlich unbekannt, niemand wollte ihre Bilder.“ Mittlerweile ist alles anders.
Nachdem er seine Wohnung in Köln gezeigt hat, fährt er nach Bonn. Im Aktionshaus Von Zengen wird eine Grafik versteigert, die er haben will. In Berlin läuft zeitgleich auch eine Versteigerung. Da wird er am Telefon mitbieten. Auf der Fahrt gerät er in einen Stau, wird immer fahriger, aufgeregter, „wir schaffen es nicht“. Der Anruf aus Berlin kommt auch nicht, „die haben mich vergessen“. Am liebsten würde er auf der Standspur überholen, tut es doch nicht, und rechnet erneut nach, ob es noch zu schaffen ist. Es sei wie eine Jagd. Wie süchtiges Begehren. „Ich weiß, es ist irrational.“ Er begehrt das Bild. „Wenn ich es nicht bekomme, frage ich mich, wo geht das jetzt hin.“
Peggy Guggenheim habe gesagt: „Jeden Tag ein Kunstwerk. Ich sage: Jede Woche eins.“ Jedes neue Bild stellt er in seiner übervollen Wohnung eine Weile so, dass er es immer anschauen kann. „Du hast das Original, das ist jetzt bei dir, du lebst damit“, sagt er. „Ich bin Treuhänder, die müssen hierher, das ist hier ja Familie. Hier ist der Resonanzraum.“
Sammler und Jäger in einem
Er schafft es noch rechtzeitig. Erst, als er mit seiner Bieternummer im Raum sitzt, wird er ruhig. Er bekommt seine Grafik von Rolf Nesch, einem, der in Norwegen Unterschlupf fand. Eine alte Frau ist darauf. Niemand bietet mit. Später stellt es sich als Fälschung heraus. Er kann das Bild für die Ausstellung über Leute, die nach Skandinavien flohen, die er bald machen will, nicht mehr brauchen.
Auf dem Rückweg meldet sich auch das Auktionshaus aus Berlin. Das Bild einer Künstlerin namens Maria Lemmé, die im KZ Theresienstadt starb, will er. Einstieg 400 Euro, er hat einen Gegner, 420, 440, 460, „bieten Sie mehr?“, wird über die Freisprechanlage gefragt. Er geht mit, aber als sie bei 700 sind, und der andere weiter geht, sagt er „nein“. Und als der Auktionator auflegt, lässt er für den Bruchteil einer Sekunde das Lenkrad los, wirft die Hände in die Luft, sagt: „Ich bin befreit.“ Er könne sich denken, wer das Bild gekauft habe. Inzwischen gebe es einen Sammler in Salzburg. Einen Arzt, „ein Mann mit dem nötigen Kleingeld“.
Und wovon er lebt? Von Artikeln, von Vorträgen und „von der Substanz“, sagt er. „Von den Exilkünstlern will ich keinen hergeben. Ich geh ja in die Öffentlichkeit, kuratiere Ausstellungen und dann werden die bekannter und dann stelle ich mir als Sammler selbst ein Bein.“ Aber Bilder, die nicht von Exilkünstlern sind, und trotzdem bei ihm landeten, die verkauft er.
Seit Jahren versucht er auch ein Museum der Exilkunst zu verwirklichen. Das ist unmöglich alleine. Die Stadt Bonn hat Interesse, „Schumanns Sammlung wäre da das Herzstück“, sagt Birgit Schneider-Bönninger, die Kulturdezernentin der Stadt. Und Schumann, der am 6. Februar siebzig wird, sagt: „Für alles gibt es Museen, für Hüte, Hunde und Spazierstöcke, aber für Exilkunst nicht. Am liebsten würde ich alles machen und wäre auch mein eigener Mäzen.“
Und dann sagt er noch, bis es das Museum gibt, so lange muss er leben.
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