Ein Liebeslied: „Big Man“ (1962)
Die wirklich ergreifenden Liebeslieder sind selbstredend die intimen, waidwunden, mit fragiler Stimme vorgetragenen, die vom Ende künden, von Verzicht und Trauer. Schwieriger noch sind die schlichten Bekenntnislieder, in denen es darum geht, das Herz werbend zu entblößen. Männer kriegen die nötige Nacktheit des Vortrags selten so hin wie ihre Kolleginnen. Wo ist der Mann, der an Roberta Flacks „The First Time Ever I Saw Your Face“ (1969) heranreicht, an „Amoureuse“ von Véronique Sanson (1971) oder an „The Look of Love“ von Dusty Springfield (1967)?
Aber es gibt auch schmissige Lovesongs mit interessanter Botschaft: „I Love To Love (But My Baby Just Loves To Dance)“ (1977) von Tina Charles etwa – oder „Big Man“ von der britischen Sängerin Kathy Kirby. Dieser Song stand 1962 am Beginn ihrer nicht wirklich beeindruckenden Karriere (sieht man einmal von Kirbys zweiten Platz beim 1965er Eurovision Song Contest ab).
In „Big Man“ kommt die Sängerin gleich zur Sache; kein instrumentales Vorspiel, nur ihre klare, fast anklagende Stimme im Joan-Baez-Diskant: „He gets up in the morning and he leaves for town / Where he’s one of a million when you’re looking down. / He’s a little man on a crowded street of little men / That you always meet in a big town.“ Ein bitterer Kommentar zu Industrialisierung und Verstädterung? Weit gefehlt, denn bereits die Worte big town stößt Kathy Kirby hervor, als sei diese Nummer für den Einsatz in Nachtclubs geschrieben worden. Adieu Joan Baez, hello Las Vegas!
Grölend geht es weiter: „But when he comes a-home at night and I hold him tight / Oh he’s the big man, yeah-ee-yeah! / He’s the big big man, when he’s in my arms.“ Man sollte vielleicht erwähnen, dass Kathy Kirby – ihrer strengen platinblonden Muttifrisur zum Trotz – zum Zeitpunkt der Aufnahme noch ein Teenager war. Vielleicht hat sie sich gewundert, den Text einer verheirateten Hausfrau singen zu sollen; was ihr aber womöglich auch verschlossen blieb, ist die latente Anzüglichkeit der Verse: „When he locks the door on the world outside / He grows at ten feet high and a lot of feet wide / Oh, he’s the big big man / In a kingdom of his own.“ Zehn Fuß! Miss Kirby, da steht ein Dreimetermann im Korridor!
„From nine to five“, singt sie treuherzig und recht laut, „he’s just a bee in a hive / Of busy little bees trying hard to survive / Working all day just to make his pay / So he can give this girl / All the things she never had.“ Jetzt erst zeigt sich die ganze Janusköpfigkeit dieses Songs. Kathys Mann ist ein armes kleines Würstchen, das um den Aufstieg in der Gesellschaft kämpft – da gibt sich Kathy keinen Illusionen hin –, aber trotzdem oder gerade deshalb vermittelt sie ihm das Gefühl, der King zu sein. Das muss Liebe sein!
Doch ist nicht eigentlich sie die Drohne im Bienenkorb, die ein wenig Gelée royale absondert, damit ihre fleißige Imme auch weiter ordentlich Naschwerk ranschleppt? Wahrscheinlich ist dieses äußerst merkwürdige Liebeslied von einem Mann geschrieben worden, dem seine verwöhnte Frau so auf die Nerven ging wie Kathy Kirbys fordernde Stimme nach einer halben Stunde Dauerbeschallung.
Reinhard Krause
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