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Ein Hauch von Bitterkeit

Die Gründerväter der Schwulenbewegung stritten seit den Siebzigerjahren für gesellschaftlichen Wandel. Und der gelang. Nicht immer allerdings vollzog er sich nach den Vorstellungen und Idealen der damaligen Aktivisten. Glanz und Frust einer Politgeneration

von JAN FEDDERSEN

„Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt“, hieß der programmatische Titel jenes Films Anfang der Siebzigerjahre, der in vielen bundesdeutschen Städten zur Gründung von Schwulengruppen führte. Der Regisseur Rosa von Praunheim darf sich das Verdienst anheften, so etwas wie die Mutter der modernen deutschen Homosexuellenbewegung geworden zu sein. Er hatte viele Helfer, Ideengeber, Berater: Martin Dannecker zum Beispiel, heute noch als Sexualforscher an der Universität in Frankfurt am Main tätig.

Was sie alle einte, war, mit den so genannten gewöhnlichen Homosexuellen ihrer Zeit nicht viel am Hut gehabt zu haben. Mit jenen Männern, die während des Nationalsozialismus oder in der Adenauerära ihr Coming-out hatten und während dieser Zeit lernten, dass eine Haltung des Versteckens und Schweigens vor (ja, auch: tödlicher) Verfolgung schützt. Den ersten Schwulenbewegten der Siebzigerjahre fehlte das Einfühlungsvermögen für die politische Lage der Homosexuellen, die vor der Entnazifizierung des Paragraphen 175, also vor 1969, aufgewachsen waren.

Martin Dannecker und sein (heterosexueller) Kollege Reimut Reiche kamen in ihrer Untersuchung „Der gewöhnliche Homosexuelle“ zu dem Ergebnis, dass schwule Männer zu einer großen Schmiegsamkeit in jeder sozialen Situation neigen, dass sie wenig geneigt sind, sich zur Wehr zu setzen, und politisch zu eher konservativen Anschauungen tendieren. Ein Resümee, das im Zeitgeist der Achtundsechzigerrevolte kaum schlechter hätte ausfallen können – im moralischen Sinne.

Noch heute wirkt diese Verachtung nach. Auch von schwuler Seite wird meist übersehen, dass die Verfolgung der Homosexuellen nach 1945 fortgesetzt wurde: Als ob sie selber Schuld daran getragen hätten, dass sich selbst in liberalen Milieus kaum jemand für den Skandal der Diskriminierung und der strafrechtlichen Verfolgung von Homosexuellen interessieren mochte.

Dennoch: Dannecker, Praunheim und all die anderen, die Anfang der Siebzigerjahre aufbrachen, Homosexualität auf die politische Tagesordnung zu setzen, mussten mitleidlos mit ihren, sozusagen, älteren Brüdern umgehen. Denn tatsächlich waren ihre Befunde und Wahrnehmungen ja nicht falsch: Schwule Männer zeigten sich gegen die Moderne der Achtundsechzigerjahre so resistent wie sonst nur katholische Landfrauen. Die Liberalisierung des Paragraphen 175 im Jahre 1969 wurde nicht erkämpft, sondern war vielmehr das Ergebnis von Bemühungen, die von Juristen und Politikern wie Gustav Heinemann ausgingen.

Die Leistung von Praunheim & Co. ist aus heutiger Sicht nicht hoch genug einzuschätzen. Im Gegensatz zu den heute florierenden Gay Communities gab es damals das blanke Nichts. Schwule Kneipen, deren Fenster mit dicken Stores verhängt waren; deren Türen nur auf ein Klingeln hin geöffnet wurden. In den Augen vieler älterer Homosexueller war das, was die meist studentischen „Schwulen“ mit ihren Gruppen, ihren Fummelparaden oder ihren Schwulenzentren betrieben, die pure Provokation: So würden nur schlafende Hunde geweckt, meinten viele von ihnen. Ein Vertrauen in die Liberalisierungspotenz demokratischer Rechtsstaaten, eine Zuversicht, politisch selbst erfolgversprechend aktiv werden zu können, hatten sie nicht – und konnten sie nicht haben. Es gab keine Zeitungen wie die Siegessäule, wie Outline oder Queer. Keine schwulen Buchläden wie „Prinz Eisenherz“ oder „Männerschwarm“.

Noch Mitte der Siebzigerjahre wurde im so genannten „Tuntenstreit“ eine Theoriedebatte ausgetragen, bei der die avancierten Kader der „Homosexuellen Aktion Westberlin“ bündig analysierten, dass eine Emanzipation von Schwulen im bürgerlichen System nicht vorstellbar sei. Große Erzählungen waren in Mode. Sozialismus war die Zauberformel. Die Befreiung von Zwangsheterosexualität war der spezielle Programmpunkt der politischen Homosexuellen, den sie auf die allgemeine Revolutionsagenda setzen wollten. Ebenso dringlich wurde die Geißel des Kommerziellen diskutiert. Die normale schwule Kneipenkultur wurde als sexistisch gebrandmarkt.

Die Großen Erzählungen haben spätestens seit Ende der Achtzigerjahre ausgedient. Sie leben nur noch in den Erinnerungen alter Streiter, die offenkundig selbst erschrocken sind über den Erfolg ihrer und nicht nur ihrer Mühen. Unsere, wenn man so will, Nischen sind größer und offener geworden. Als Lektüren werden nicht mehr nur Schriftsteller der Verzweiflung und der Melancholie gelesen, also Jean Genet, Klaus Mann, Hubert Fichte oder Hans Henny Jahnn. Nun gibt es auch Schriftsteller wie Baby Neumann, Elvira Klöppelschuh, Felice Picano oder Armistead Maupin – mit ihren Zeugnissen selbstbestimmter schwuler Biographien, kämpferisch bisweilen, aber nicht subaltern und Honig daraus saugend, von der Welt nicht verstanden zu werden.

Womöglich ist es kein Zufall, dass die real existierende Bundesrepublik heute von den meisten schwulen Männern und lesbischen Frauen nicht mehr grundsätzlich als homophob wahrgenommen wird. Wer will, kann auch als schwul oder lesbisch über die Runden kommen, und das nicht einmal besonders versteckt. Es hat vielleicht damit zu tun, dass heute eine Generation das öffentliche Bild bestimmt, die nicht mehr in den Fünfzigerjahren erwachsen geworden ist, sondern im liberalen Klima der späten Sechzigerjahre.

Was sie nicht mehr betreiben, sind die zermürbenden Aus- und Eingrenzungskämpfe früherer Zeiten. Machen die Einen eine bürgerliche Politveranstaltung mit Parteienvertretern, kämpfen die Anderen an der Kulturfront, üben sich in Normalität (Sportvereine und Freizeitgruppen mit öffentlich wahrnehmbaren homosexuellem Profil). Niemand kann sich mehr erlauben so zu tun, als behindere das eine Projekt das andere und gefährde das gemeinsame Ziel der Emanzipation.

Weiß heute überhaupt noch jemand genau, was Emanzipation ist? Meint dieser Begriff mehr als die Eroberung auch noch der letzten homophoben Terrains, aktuell also die Bundeswehr? Die politischen Frontlinien haben sich jedenfalls verschoben. Kämpfen die Einen politisch durchaus lobbyierend auch in kleinsten Zirkeln um die Gleichstellung homosexueller Partnerschaften, betonen die Anderen, dass es mit einer Bürgerrechtspolitik nicht getan sei, vielmehr müssten Homosexuelle mehr tun als sich nur um ihr eigenes politisches Schicksal kümmern. Aber was ist, wenn diese nicht wollen? Wenn den meisten ausreicht, von staatlichen Zumutungen frei zu bleiben und die ganz gewöhnliche, meinetwegen: bürgerliche Normalität leben zu wollen? Werden wir dann noch besonders bleiben? Lebt es sich nicht ideenloser ohne Idee, hier: ohne Utopie?

Vermutlich bleiben wir so besonders, wie wir gerade möchten. Aber wer will sich schon ständig in Sachen Anderssein auf den Prüfstand stellen? Fragen, die sich die Siebzigerjahrebewegten nie stellen konnten: Da reichte schon die Auskunft, schwul zu sein, um mindestens einen Abend lang das Objekt langwieriger Neugier zu werden. Die Furcht vor dem Verlust des Status als Andere ist auch die Furcht davor, sich nicht mehr Mitleid heischend als Opfer oder Diskriminierte stilisieren zu können. Das ist eben auch der Inhalt von Bitterkeit älter gewordener Männer aus der Schwulenbewegung. Ihre alten Erzählungen von Repression und Faschismus, von Diskriminierung und Zwangsheterosexualität hören sich an wie Landserberichte.

Es ist für viele Männer aus der Schwulenbewegung der Siebzigerjahre schwer, Politik und Emanzipation als pragmatisch zu begreifen. Selbst modische Gendertheorien helfen nicht weiter. Sie sagen auch nichts anderes, als dass es Benachteiligte und weniger Benachteiligte gibt. Für den Alltag taugen sie nicht. Wer mit seinem Lebensgefährten vor dem Problem steht, die gemeinsame Habe im Falle des Todes von einem der Beteiligten vor dem Zugriff der heterosexuellen Blutsverwandten zu retten, ist darauf angewiesen, dass es Gesetzesänderungen gibt. Und die sind nicht ohne den massiven Widerstand kirchlicher Kreise und der Union zu haben (wer diese Art von Pragmatismus als mittelschichtorientiert denunziert, will politisch ohnehin anderes: nämlich nicht die Interessenvertretung von konkret Benachteiligten, sondern, sagen wir: die Artikulation von Klassenpolitiken).

Unsere Integration wird uns differenzieren. Unser kollektives Schicksal als Homosexuelle wird nicht mehr drastisch erkennbar sein. In die heterosexuelle Gesamtsumme werden wir aber auch nicht aufgehen können. Heterosexuelle Männer und Frauen haben einfach viel länger gelernt, sich als sexuelle Wesen, als sozial Liebende zu balancieren. Schwule und Lesben leben einfach anders. Unser Sex ist unterschiedlich, unsere Ängste sind andere. Selbst wenn wir alle Rechte und Pflichten nutzen können und einlösen müssen, die auch Heterosexuelle haben, wird es Schwule und Lesben als soziale Gruppe geben: schon um einander kennen zu lernen.

Integration ist nur ein demokratischer Akt, ein Prozess, der uns aber nicht um unsere Identitäten bringt. Wer will, kann sich stilisieren zu was und zu wem auch immer. Er oder sie dürfen nur nicht behaupten, dass alle so sein müssen wie sie. Uns Homosexuellen steht ein Bewusstsein für die große Unübersichtlichkeit der Lebensideen noch bevor. Die echten Feinde drohen uns abhanden zu kommen. Das muss und das wird nicht nur gut tun. Feinde zu haben, darauf hat der Sexualwissenschaftler Volkmar Sigusch schon in den Achtzigerjahren hingewiesen, stärkt das Lebensgefühl ungemein. Verhältnismäßig unangefochten als Homosexuelle leben zu können ist langweiliger als verfolgt zu werden oder sich so zu fühlen. Das können wir aus den Berichten von Schwulen erfahren, die vor fünfzig Jahren jung waren. Aber das ist der Preis, den wir zahlen müssen. Jeder wird künftig allein dafür verantwortlich sein, sein oder ihr Leben aufregend zu gestalten. Das ist die einzige Utopie in kultureller Hinsicht.

Bis es so weit ist, kann und muss noch viel gekämpft werden. Entgegen allen Prognosen der Praunheims der Siebzigerjahre hat sich der Streit um unser sichtbares Dasein bislang ziemlich gelohnt – nicht nur als Utopie.

JAN FEDDERSEN, 43, ist taz.mag-Redakteur. Er erlebte seine schwulenpolitische Initiation 1977 bei einem Knutsch-in am Hamburger Mönckebergbrunnen. Sein Text ist die gekürzte Fassung eines Beitrags für den demnächst erscheinenden Sammelband „Schwulsein 2000. Perspektiven im Vereinigten Deutschland“, herausgegeben von Günter Grau, Männerschwarm Skript, Hamburg

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