Ein Dorf fast ohne Arbeitslose: Voll beschäftigt in Eichstätt
Ein oberbayerisches Dorf hat die wenigesten Arbeitslosen Deutschlands. In der Arbeitsagentur weiß man, was Vollbeschäftigung heißt. Paradiesisch? Nicht für alle.
EICHSTÄTT/GAIMERSHEIM taz Im Empfangsraum riecht es nach Imbissbude. Eine Mitarbeiterin tunkt vor ihrem Monitor genüsslich eine Knackwurst in den Senf, die Kollegen haben Stullen ausgepackt. Kunden sind nicht in Sicht, der Warteraum am Ende des Korridors steht leer. Drei Computer schlummern vor sich hin, niemand will kostenlos im Internet den neusten Jobangeboten hinterhersurfen. Nur ein Pappkamerad hält tapfer lächelnd einen Stapel Broschüren bereit. Es ist Donnerstag, Publikumstag in der Arbeitsagentur in Eichstätt.
Die Arbeitslosenzahl ist im November auf den niedrigsten Stand seit fast 15 Jahren gefallen. Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit (BA) waren 3.378.000 Männer und Frauen ohne Arbeit, 55.000 weniger als im Oktober und 617.000 weniger als vor einem Jahr. Die Quote ging um 0,1 Punkte auf 8,1 Prozent zurück. Vor einem Jahr lag sie bei 9,6 Prozent. Im Ländervergleich hat Baden-Württemberg mit 4,3 Prozent die niedrigste Arbeitslosenquote, Mecklenburg-Vorpommern mit 14,6 Prozent die höchste. Im bayerischen Eichstätt ist sie im Vergleich zum Oktober um 0,1 Prozent gestiegen - auf 1,4. Für BA-Chef Weise gibt es derzeit keine Hinweise für ein vorzeitiges Ende des Arbeitsmarktaufschwungs. Nur kurzfristig, im Dezember und Januar, rechnet er mit bis zu 150.000 Erwerbslosen.
Helmut Stadler, 62, schreitet mit einem Aktendeckel unterm Arm über den Flur. Der Behördenchef könnte jetzt stehen bleiben und mit einer ausladenden Geste sein kleines Paradies preisen: Schauen Sie nur, so leer sollten alle Arbeitsagenturen sein! Aber Stadler scheint die Beschaulichkeit irgendwie unangenehm. Das Wetter sei schuld, brummelt er, bei Sonnenschein gingen die Leute halt lieber spazieren als aufs Amt.
Stadler kennt das Geschäft. Seit sieben Jahren leitet er die kleine Zweigstelle im zweiten Stock eines Bürohauses am Eichstätter Bahnhof. Über die Bilanzen der oberbayerischen Behörde staunen die Fachleute im ganzen Land. Seit Monaten sackt die Arbeitslosenquote im Raum Eichstätt auf immer neue Tiefstwerte. Als vor vier Wochen die Oktoberzahlen bekannt wurden, schickte die Ingolstädter Zentrale eine Jubelmeldung an die Presse: "Sensationell" sei das Ergebnis, die Eichstätter hätten eine "historische Quote" erreicht. Ganze 551 Arbeitslose führte die Geschäftsstelle Eichstätt da noch in ihrer Kartei - 1,3 Prozent der Bevölkerung. Weniger als irgendwo sonst in Deutschland.
Seit Monaten erleben die Vermittler in der Eichstätter Arbeitsagentur, was Vollbeschäftigung heißt. Während sich in anderen Gegenden immer noch Dutzende um eine offene Stelle drängen, hat sich in der Region zwischen München und Nürnberg die Lage umgekehrt. Viele Firmen suchen verzweifelt qualifiziertes Personal.
Doch solche Fachkräfte finden sich kaum noch unter den wenigen Arbeitslosen, die Stadlers Leute zuletzt noch betreuten. 85 Prozent seiner Klientel seien inzwischen "Brandfälle", sagt der Agenturchef. Viele müssten sich erst wieder an einen geregelten Tagesablauf gewöhnen: "Wir können nicht so einfach unsere Arbeitslosen zu CNC-Fräsern umschulen."
Stephan Knitl-König kennt die Wünsche der Unternehmen - und die Wirklichkeit. Der Sozialpädagoge arbeitet als Mangelverwalter: Er kümmert sich in der Eichstätter Arbeitsagentur um die Anfragen der Unternehmen und bemüht sich, passende Bewerber für ihre offenen Stellen aufzutreiben. Knitl-König, 32 Jahre, gebügeltes blaues Hemd, kräftige Brille, ist ein ernster, emsiger Typ. Sein Geschäft ist mühsam. Denn für den neuen Job von Bremen oder Chemnitz nach Oberbayern umzuziehen - das können sich offenbar die wenigsten Arbeitslosen vorstellen.
Vierzehn Hotelfachkräften in ganz Deutschland hat er gerade einen persönlichen Brief geschrieben: Ob sie nicht Lust hätten, sich als Chefkellner bei einem guten Haus in der Region zu bewerben? Das Hotel schmückt sich mit vier Sternen - Konstantin Wecker war schon zu Gast, Roland Kaiser auch. Doch von den vierzehn Arbeitslosen reagierte gerade mal eine Frau. "Für unsere Verhältnisse", sagt Stephan Knitl-König, "war das aber nicht mal ein schlechter Rücklauf." Die Stelle ist immer noch ausgeschrieben. Denn als das Hotel die Bewerberin schließlich anstellen wollte, hatte die bereits einen anderen Job gefunden.
In Eichstätt erzählt man sich solche Anekdoten über die leidvolle Suche nach Arbeitnehmern inzwischen so selbstverständlich, wie anderswo jene über fehlende Jobs. Bittet man den Oberbürgermeister um ein Gespräch zur Arbeitsmarktlage, ruft der Sozialdemokrat ins Telefon: "Da können S gleich meinen Schwiegersohn fragen!" Der Schwiegersohn von Oberbürgermeister Arnulf Neumeyer betreibt fünf Minuten vom Rathaus entfernt unterhalb des Benediktinerinnen Klosters St. Walburg eine Fahrschule. Die jungen Leute rennen ihm die Bude ein. Nur könne er alleine gar nicht so viel unterrichten, sagt Stefan Graf. Seit Jahresbeginn habe er deshalb einen weiteren Lehrer gesucht. Vergeblich. Friseure und Elektriker, Fräser und Dreher, Lkw-Mechaniker, Steuergehilfen - in Eichstätt sind inzwischen viele Qualifikationen gefragt.
Und das, obwohl die 14.000-Einwohner-Stadt im Altmühltal auf den ersten Blick keine Spuren eines spektakulären Jobwunders aufweist: Üppige Barockbauten in der Altstadt, zehn Klöster, ein Bischofssitz und die einzige katholische Universität des Landes - Eichstätt wirkt eher wie das perfekte Ausflugsziel für Touristen, denen es nicht adrett und katholisch genug sein kann. Zur vollen Stunde läuten die Glocken aus jeder Himmelsrichtung. Der Tourismus hat dem Landkreis 2.000 Jobs gebracht, kleine und mittelständische Betriebe florieren, Insolvenzen sind selten.
Reicht das allein für eine Arbeitslosenquote von 1,3 Prozent? Nein, sagt Reinhard Weber, Arbeitsmarktexperte von der Universität Eichstätt-Ingolstadt. Die Region profitiere vor allem von einer Entwicklung jenseits ihrer Grenzen. Am südlichen Ende des Landkreises liegt der Hinterausgang des Ingolstädter Audi-Werks. 11.000 Menschen aus der Region Eichstätt arbeiten dort. Der Autohersteller hat nach eigenen Angaben in den letzten zehn Jahren seine Belegschaft auf dem Gelände um 6.000 Mitarbeiter vergrößert. Rund 600 Ingenieure stelle Audi in diesem Jahr ein, sagt eine Firmensprecherin, noch einmal so viele im nächsten. Und in den Industriegebieten rund um das Werksgelände boomen die Zulieferbetriebe.
Einen davon hat Markus Fichtner vor neun Jahren mit einem Kollegen von Audi aufgezogen. Fichtner hat inzwischen 145 Angestellte - und gerade noch einmal knapp dreißig Stellen ausgeschrieben: Kfz-Elektriker, Kfz-Mechaniker und -Mechatroniker, Industrieelektriker, technische Zeichner sucht das Unternehmen. Und reihenweise Ingenieure. Wenn man den 34-Jährigen aus dem Tritt bringen will, muss man ihn auf Arbeitslosigkeit ansprechen. Er zögert einen Augenblick. "Ganz ehrlich", sagt er dann vorsichtig und schiebt die Ärmel seines wollweißen Ralph-Lauren-Pullis hoch. "Ich selbst kenn keinen einzigen Arbeitslosen." Ihm sei auch nicht klar, wie man in dieser Region keinen Job finden könne. Es klingt, als habe man ihn nach der Hungersnot in Äthiopien gefragt.
In welche Himmelsrichtung Fichtner von seinem elfenbeinfarbenen Bürosessel auch blickt - überall bietet sich das gleiche Panorama. Die Arbeit wuchert beinahe wie Unkraut im Industriegebiet von Gaimersheim. Im Osten pirschen sich die Ausläufer des Ingolstädter Audi-Werks schon auf Sichtweite an den Ort heran. Im Norden wird gerade das Gewerbegebiet um einen Straßenzug erweitert. Im Westen wächst auf dem Nachbargrundstück ein fünfstöckiges Bürohaus, der Rohbau steht bereits. Bauherr ist Markus Fichtner selbst. Im Frühjahr sollen neue Angestellte seiner Fahrzeugtechnik-Firma BFFT dort einziehen - jedenfalls jene, die er bis dahin findet.
Fichtner ist die Personalsuche längst über den Kopf gewachsen. Er hat deshalb vor drei Monaten mit seinem Geschäftspartner eine weitere GmbH gegründet, die sich "Work Performance" nennt. Die Firma schreibt täglich etwa 300 potenzielle Mitarbeiter an, veranstaltet "Driving Days" und Bewerbertage mit "Dinner und DJ". Ihr einziges Ziel: aus ganz Deutschland gute, junge Fachkräfte anzulocken.
Das allerdings wollen auch die meisten seiner Nachbarn. In einer Fabrikschachtel drei Schritte von Fichtners Firma entfernt sitzt Herbert Haas und erzählt von seinem täglichen Kampf um Informatiker. Haas ist Personalchef der IT-Firma Prosis. Vor einem Jahr, sagt Haas, da habe er fünf Bewerbungen am Tag auf den Schreibtisch bekommen, inzwischen seien es noch zwei bis drei die Woche. Und die Qualität lasse nach.
"Wenn ich diese Quote von 1,3 Prozent Arbeitslosen höre", sagt Haas verzweifelt, "dann könnte ich mit dem Kopf auf den Tisch hauen." Für einen Moment sieht es aus, als erschrecke er über seine eigenen Worte. Natürlich wünsche er niemandem die Kündigung, ergänzt der Personalchef hastig. "Aber wenn wir hier wieder eine gesunde Arbeitslosigkeit bekommen würden - das wäre für uns schon ein wichtiger Punkt!"
Gesunde Arbeitslosigkeit? In der Eichstätter Arbeitsagentur reagieren die Mitarbeiter empfindlich auf solche Formulierungen. Der Jobvermittler Stephan Knitl-König will nicht einmal das Wort "Vollbeschäftigung" in den Mund nehmen - schließlich litten von den 551 Arbeitslosen in der Region viele unter ihrer Situation, sagt der studierte Sozialpädagoge. Und der Ton gegenüber Menschen ohne Arbeit sei härter geworden.
Er und seine Kollegen sehen die geringe Fallzahl im Landkreis als Chance, sich nicht intensiver um jene zu kümmern, für die sich nach wie vor kein Personalchef interessiert. Früher, erzählt der Filialleiter, seien Arbeitslose durchschnittlich alle drei Monate vorgeladen worden. Heute würden einige alle vierzehn Tage vorbeikommen. Stephan Knitl-König findet es unverantwortlich, von paradiesischen Zuständen auf dem Arbeitsmarkt in der Region zu sprechen. Der Familienvater weiß, wovon er spricht. Er hat selbst nur einen befristeten Vertrag bei der Arbeitsagentur.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Anschlag in Magdeburg
Der Täter hat sein Ziel erreicht: Angst verbreiten
Bundestagswahl 2025
Parteien sichern sich fairen Wahlkampf zu
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Tarifeinigung bei Volkswagen
IG Metall erlebt ihr blaues „Weihnachtswunder“ bei VW