Ein Brief an einige Leser:innen (4) : Wofür wurde die taz gegründet?

Vielfältig und unabhängig zu berichten heißt, sich zu fragen: Was, wenn andere recht haben? Aber auch: zu den eigenen Erkenntnissen zu stehen

Ein Kind und (s)ein Schild – Szene auf einer Demo gegen Corona-Präventionsmaßnahmen am 9. Mai 2020 in Stuttgart Bild: Imago Images/Arnulf Hettrich

Von ANJA MAIER

Die taz ist gegründet worden als Projekt der Gegenöffentlichkeit. 1979 war das. In Nicaragua endete damals die Diktatur Somozas. Sowjetische Truppen marschierten in Afghanistan ein. Der Deutsche Herbst polarisierte das Land. So waren sie, die Zeiten: bewegt und in Teilen repressiv.

Mit der täglichen linken Tageszeitung verband sich die Hoffnung, das Ungehörte laut, das Quergedachte geltend, das Verdrängte sichtbar zu machen. Das Internet war noch irgendeine Raketenwissenschaft für Nerds, Menschen schrieben einander Telegramme. Und da wo ich herkomme, in der DDR, hatten die meisten nicht einmal einen privaten Telefonanschluss. Von freier Presse konnte nicht die Rede sein.

Mittlerweile tragen wir alle die ganze Welt in unserem Mobiltelefon mit uns herum. Wir haben jederzeit unbegrenzten Zugriff auf Informationen, auf die guten und die schlimmen. Die taz, meine Zeitung, ist eine Quelle unter Millionen: klein, aber von Belang. Das jedenfalls entnehmen wir den Mails und Briefen unserer Leser:innen, die uns täglich erreichen.

Die taz geht in die Auseinandersetzung mit ihren Leser:innen zur Corona-Berichterstattung. Denn Streit muss sein, schreibt Chefredakteurin Barbara Junge in ihrem Editorial im taz Hausblog:  ➡︎ taz.de/hausblog

Wir lesen alle Zuschriften

Seit dem Ausbruch des Coronavirus ist darunter viel Zustimmung, aber auch immer wieder Kritik. Wie haltet ihr es noch mit der Gegenöffentlichkeit? Seid ihr nicht mittlerweile ein regierungsamtliches Verlautbarungsblatt? Wieso werden Kritiker:innen der aktuellen Politik als Verschwörungstheoretiker:innen bezeichnet? Ist Freiheit gerade in Coronazeiten nicht immer die Freiheit der Andersdenkenden – so, wie es in eurem Redaktionsstatut steht?

Wir lesen diese Zuschriften alle, und wir nehmen sie ausnahmslos ernst. Und doch gibt es ein Aber. Wir bilden Vielfalt ab, weil wir vielfältig sind und denken. Für mich bedeutet das, Informationen zu beschaffen und sie den Leser:innen zugänglich zu machen. Manche kommentiere ich auch.

Ich versuche offen zu bleiben für neue, auch unbequeme Sichtweisen. Es gilt der so kluge wie enorm anstrengende Satz: Der andere könnte recht haben. Aber ich erfülle keine Wünsche der Art, gewonnene Erkenntnisse und Überzeugungen über den Haufen zu werfen, um den Eindruck von Leser:innen abzuschwächen, wir in der taz-Redaktion seien „gelenkt“, wir seien „Mainstream“ oder „Systempresse“.

Unsicherheit und Existenzangst

Als Parlamentsberichterstatterin bin ich ziemlich nahe dran am politischen Geschehen. Ich spreche mit Politiker:innen und versuche, deren Entscheidungen und die Wege dorthin transparent zu machen. Mir geht es dabei wie allen im Land: Manches verstehe ich, manches überhaupt nicht. Einiges halte ich für überzogen, anderes für überfällig. Was ich aber nie erlebe, ist so etwas wie ein politikseitiger Schreibauftrag. Nie. Da bin ich ganz die taz: unabhängig.

Das, was sich seit Monaten ereignet, betrifft die Lebenswelt aller in unterschiedlichster Weise. Corona ist lebensgefährlich, das Virus erzeugt Unsicherheit und Existenzangst. Es trennt und spaltet Familien. Es bewirkt, dass Grenzen geschlossen bleiben und Meinungen und Erfahrungen abgetan werden, während Lobbyist:innen Gehör finden. Das ist anstrengend und wird mitunter massiv verschärft durch unverständliche Verordnungen.

„Eine demokratische Zumutung“ sei Corona, hat Angela Merkel gesagt. Ich halte viele Verordnungen für angemessen, wünsche mir allerdings eine bessere Abstimmung zwischen Ländern und Bundesregierung. Durch Verordnungswirrwarr entsteht Unsicherheit; und wer unsicher ist, macht Fehler, die lebensgefährlich sein können.

Sie wurde 1965 in der DDR geboren, als 1989 die Mauer fiel, freute sie sich, bei der „libertären und immer schon positiv verrückten taz“ anzufangen. Heute arbeitet sie als Parlamentsredakteurin der taz.

 

Ruppiger Tonfall

Die zentrale Erfahrung der zurückliegenden Wochen ist also die einer „radikalen Ungewissheit“ – so hat das die Theologin Petra Bahr gerade in einem taz-Interview formuliert. Das Gespräch mit ihr, dem Mitglied des Deutschen Ethikrates, hat die taz deshalb gesucht, weil wir eben nicht nachbeten, was der Regierungssprecher oder das Robert-Koch-Institut uns mitteilen. Sondern weil auch wir spüren, wie sich die Atmosphäre zuspitzt, wie Zweifel und Alternativen beiseitegewischt werden.

Wir fragen uns, woran es liegt, dass unsere Leser:innen aufgebrachte E-Mails schreiben, die allermeist klug und diskursiv sind, die aber manchmal selbst vor Trump-Vokabular nicht zurückschrecken und „alternative“ Informationsquellen empfehlen, die eindeutig dem Spektrum von Klimawandel-Leugner:innen und rechten Verschwörungsanhänger:innen zuzuordnen sind.

Petra Bahr, Bischöfin von Hannover, spricht von einem „ruppigen Ton“ und stellt fest: „Drastische Einschnitte in die Grundrechte zu thematisieren ist nachgerade Bürgerinnenpflicht.“ Sie fordert aber auch dazu auf, sich zu fragen, wie das geschieht. Aus der politischen Lage „eine Analogie zum Nationalsozialismus abzuleiten, von ‚Virologendiktatur‘ oder Ähnlichem zu schwadronieren“ findet sie „unerträglich und geschichtsvergessen“.

Widersprüche darzustellen, Informationen zu beschaffen, zu prüfen und gegebenenfalls neu zu bewerten – daran arbeiten wir hier in der taz jeden Tag. Und ja, Einschnitte in die Grundrechte zu thematisieren ist in Zeiten einer globalen Pandemie Pflicht und publizistischer Auftrag. Aber zu berichten, wenn der Protest von Antisemit:innen und gewaltbereiten Rechten gekapert wird, zwingend auch. Auch dafür ist die taz damals gegründet worden.

Wie zufrieden sind Sie als Leser:in, Genoss:in und Abonnent:in mit der Corona-Berichterstattung der taz? Schreiben Sie uns!

• Per Mail: briefe@taz.de

• Per Post: taz die Tageszeitung, Redaktion Leser:innenbriefe, Friedrichstr. 21, 10969 Berlin

Von „Schmähungen“ bis „Besserwisserisch“ – so kommentieren derzeit Leser:innen unsere Corona-Berichterstattung. Eine Auswahl von Stimmen seit dem 09.05.2020:

 

• „Schmähungen“

Zur taz Corona-Berichterstattung allgemein

Bei all den sich widersprechenden Vorschriften, bei den nie eingetroffenen Vorhersagen bzw. sich selbst überholenden Vorgaben, ist es der gesunde Menschenverstand, der Zweifel aufkommen lässt. Ich nenne mal drei Bespiele: Besuchsverbot im Hospiz bei durchschnittlicher Überlebenszeit im Hospiz von 2 Wochen, niedrigere Infektionsrate bei den Held*innen vor Ort (Rewe-Mitarbeiter*innen) als in der Gesamtbevölkerung, Reproduktionsrate unter 1 seit über 6 Wochen … Unabhängiger Journalismus darf sich nicht hinter dem Wörtchen „seriös“ verstecken, darf nicht Aussagen einiger als wissenschaftliche Evidenz verkaufen, wo es keine wissenschaftliche Evidenz gibt, und andere Meinungen schmähen. Der aktuell größte Fehler ist es, aufkommende Zweifel in die Ecke der Verschwörungstheorien zu stellen und alle, die nachhaken in die rechte Ecke zu schieben. So gewinnt man niemanden!

Patrick Volk, Heidelberg

 

• „Diffamierungen“

Zu „Alu mit Bürgerrechtsfassade“, taz vom 07.05.20

Liebe taz, du warst mal eine erfrischend neue – und notwendige – Alternative zum Mainstream-Blätterwald. Doch heute bist du geopolitisch so stramm auf Nato-Linie, dass es schon wehtut. Du gebrauchst gut eingeführte Kampfbegriffe der Mainstream-Medien wie „Verschwörungstheoretiker“, „umstritten“ oder „Querfront“, um Personen zu diffamieren. Man muss kein Fan solcher Leute sein, um diese Art von Journalismus für unseriös zu halten. Besser wäre solide Recherche sowie objektive Analyse und Information. Damit bist du selbst zum Mainstream geworden und auf dem besten Wege, zur Bild-Zeitung für Bildungsbürger zu werden.

Eckhard Hempfling, Niestetal

 

• „Affirmativ und kritiklos“

Zur taz Corona-Berichterstattung allgemein

Als langjähriger taz-Leser bin ich entsetzt über die affirmative und kritiklose Berichterstattung der taz. Wo bleiben kritische Stimmen, Nachfragen und Berichte über Andersdenkende? Insbesondere vermisse ich eine vertiefte Berichterstattung über den Bericht aus dem Innenministerium. Wo bleiben Nachfragen an die Regierung?

Rolf Zimmermann, Kordel

 

• „Besserwisserisch“

Zur taz Corona-Berichterstattung allgemein

Ich vermisse sehr den kritischen Journalismus. Nicht nur in den ersten drei Wochen, wo fast alle Zeitungen völlig unkritisch die Zahlen aus der Politik übernommen haben, sondern auch jetzt, wo Ihr Euch herablassend und besserwisserisch über die Demos gegen die Coronamaßnahmen äußert und sie in die Ecke der Verschwörungstheoretiker stellt. Anscheinend ist Euch entgangen, dass es inzwischen eine immer stärker werdende außerparlamentarische Bürgerbewegung gibt, die auf Grund von Fakten, längst gemerkt hat, dass da sehr viele Ungereimtheiten und falsche Zahlen verbreitet werden. Diese Bewegung will nichts mit Rechten und Verschwörungstheoretikern zu tun haben. Ich gehöre auch dazu. In den drei Männergruppen, in denen ich unterwegs bin, herrscht inzwischen Konsens, dass sich  die Politik vergaloppiert hat, mit ­teilweise falschen Zahlen hantiert hat und im Hintergrund auch die Pharma­industrie ihr Süppchen kocht. Auch bei unserm Biobauern und bei vielen Handwerkern ist diese Meinung inzwischen angekommen. Wo bleibt eure saubere Recherche zum Beispiel über die Finanzierung der WHO – den Einfluss und die Ziele der Bil- Gates-Stiftung? – Habt Ihr womöglich Angst, als Verschwörungstheoretiker gebrandmarkt zu werden?

Josef Reichenspurner, Triftern 

 

• „Bill Gates und WHO“

Zur taz Corona-Berichterstattung allgemein

Meine Kritik richtet sich an die Mainstream-Berichterstattung. Warum bringt Ihr nicht mal Berichte von seriösen anerkannten Kritikern z. B. Dr. Köhnlein, Dr. Bhakdi, Dr. Alt etc. Es gibt doch zwischen schwarz und weiß so viele Grautöne. Zwischen Verschwörungstheorien und Demos dazu und totaler Angstmacherei. Was ich mir noch wünsche: Interpretation von Kurven zu Erkrankungen im Vergleich in verschiedenen Jahren. Ausführlich über Bill Gates: sein Leben, seine Entwicklung/Familie/Ziele/Einfluss auf WHO etc.  Kritik am RKI und ein ausführlicher Bericht zur WHO, vor allem zum Einfluss der Geldgeber. Ansonsten möchte ich auch Danke sagen über die Berichterstattung zur Flüchtlingsproblematik in der ganzen Welt. Die Artikel sind informativ, und vor allem kommen Flüchtlinge zu Wort! Trotzdem oft auch frustrierend, weil ich mich machtlos fühle.

Ulrike Althof, Bramsche