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Ein Blick über die Schlagbäume hinweg

■ Ein neues Balkan-Handbuch ersetzt Länderanalysen durch einen Panoramaschwenk. Ergebnis: Keine Bedienungsanleitung für den Balkan, sondern eine erhellende Lektüre

Wer die Länder auf dem Balkan einzeln betrachtet, verzerrt die Perspektive. Diese Ansicht vertreten die Herausgeber des gerade jüngst erschienenen „Südosteuropa. Ein Handbuch“. Deshalb haben sie ihr 500 Seiten starkes Nachschlagewerk nicht nach den verschiedenen Ländern – dem früheren Jugoslawien, Rumänien, Bulgarien, Moldova, Albanien, Türkei und Griechenland – eingeteilt, sondern nach Themengebieten. Die Staatsgrenzen in Südosteuropa hätten eben wenig Bedeutung, wenn man das Ganze, seine Gemeinsamkeiten und seine Kontraste, verstehen will. „Die Kulturlandschaften selbst sind nicht als starre, eindeutig abgrenzbare Einheiten anzusehen, sondern vielmehr als flexible Bezugsgrößen, die infolge der grenzüberschreitenden soziokulturellen Bewegungen einem ständigen Wandel unterliegen.“ So verheißt gleich die Einleitung endlich Verständnis für Krisen und Krieg – die Unheil bringenden Staatsbildungen werden im Geiste wieder aufgelöst, damit die nötigen übergreifenden Erkenntnisse nicht an irgendeinem willkürlich fallenden Schlagbaum Halt machen müssen.

Dieses Konzept ist voller Sprengkraft. Natürlich bewahrt die wissenschaftliche Feder Ruhe, auch wenn die Meinungen auseinandergehen. Das tun sie häufig. Stefan Troebst, Mitherausgeber und seit längerem mit Minderheitenproblematiken befasst, analysiert, dass die aktuellen Konflikte gerade nicht dort ausbrachen, wo man es vermutet hatte. Statt des zentralbalkanischen, von seinen Nachbarstaaten massiv in Frage gestellten Makedoniens, so Troebst, ist das Kosovo explodiert, das eigentlich ein gewaltloses Jahrzehnt hinter sich hatte. Das liest sich bei Wolfgang Höpken, Professor für Osteuropa in Leipzig, in seinen Überlegungen zum Staatensystem ganz anders. Mit den Wünschen nach einer eigenen Republik hätten die Albaner im Kosovo schon 1981 den Zerfall Jugoslawiens eingeleitet und seien damit „Vorboten eines sich allenthalben zeigenden Ethnonationalismus“ gewesen.

Das Ergebnis sei heute die Notwendigkeit internationalen Eingreifens, meinen einige Autoren, andere, der Balkan habe schon immer Hilfe von außen nötig gehabt. Die Bewertung der akteullen Intervention von außen – manifestiert vor allem im Friedensabkommen von Dayton – fällt höchst verschieden aus. Manche loben es für die Schaffung „allseitiger Normalisierung“, andere halten Dayton für die Ursache der mangelnden Stabilisierung von Bosnien-Herzegowina und Ausdruck eines realitätsfremden, verworrenen Minderheitenschutzes.

Das Thema Nationalismus zieht sich durch das gesamte Buch. Da ist von einem „Nationalismusreflex“ die Rede, der, wie automatisiert, in fast alle Politikebenen hineinwirkt. Oder von der üblen Allianz von kommunistischen Parteien und nationalistischen Schreihälsen. Im Teil zu Geschichte und zu Literatur wird deutlich, dass die Verschiedenheit im kulturellen und religiösen Bewusstsein der Menschen verankert ist, ohne dass dies zu kriegerischen Auseinandersetzung hätte führen müssen. Edgar Hösch, Verfasser des Longsellers „Geschichte der Balkanländer“, nennt die Region treffend einen „melting-pot“.

Dieses Handbuch ist keine Bedienungsanleitung für den Balkan. Vereinfachung ist ausgeschlossen, schon weil die Kenntnisse der Autoren eben nicht an Staatsgrenzen enden. Herkömmliche Länderanalysen können da nicht mithalten.

Außer es gelingt ihnen, Wirtschaftsthemen fesselnd zu integrieren. Das scheint der Ansatz dieses Buches nicht hergegeben zu haben: Denn im ökonomischen Bereich fehlt den Gemeinsamkeiten Südosteuropas überspannender Erkenntnisgewinn. So bleibt hier nur eine Land-für-Land-Aufzählung übrig. Einige Seiten Ödnis in einem Buch, das ansonsten Standards setzt. Mareille Ahrndt

„Südosteuropa. Ein Handbuch. Gesellschaft, Politik, Wirtschaft, Kultur“. Hg. von Magarditsch Hatschikjan und Stefan Troebst, München 1999, C.H. Beck Verlag, 570 Seiten, 78 DM

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