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Ein Besuch bei einer Sinti-Musiker-Familie aus WilhelmsburgDie Erweckung der Familie Weiss

Die Hamburger Linie der berühmten Musikerfamilie Weiss wohnt in einer Siedlung in Wilhelmsburg. Sie hat dort sogar eine eigene Kirche: die "Gemeinde der Geborgenheit". Der junge Saxofonist Kako Weiss erzählt, wie er aus der Familientradition ausbrach - und wie er reumütig zu ihr zurückkehrte.

Kako Weiss spielt mit seinen Onkeln beim Elbinsel-Gipsyfestival. Bild: Miguel Ferraz

HAMBURG taz | Wenn sich ein Musikwissenschaftler die Fleißarbeit machen würde, Musiker-Namen in der Reihenfolge ihrer Häufigkeit auf eine Liste zu setzen - dann würde gleich hinter Reinhardt der Name Weiss auftauchen.

Und in den meisten Fällen würde die Qualität dieser Musiker die Top-Platzierung rechtfertigen - so auch am Wochenende auf dem Elbinsel-Gipsyfestival, bei dem die Hamburger Familie Weiss zum dritten Mal im Bürgerhaus Wilhelmsburg auftrat.

"Ein Sinto darf tanzen, malen oder Musik machen", erzählt Kako Weiss ein paar Tage vor dem Festival im Haus seines Vaters Goldi Weiss. " Aber wenn er einen vernünftigen Job haben will, dann hat er es schwierig." Der 29-jährige Saxofonist hat das erst gar nicht versucht, sondern gleich eine Musiker-Karriere eingeschlagen - und es nicht bereut.

"Ich kann mir keine andere Arbeit vorstellen", sagt Kako Weiss. Er trat als Gastmusiker mit Rock-n-Roll-Legenden wie Lee Curtis oder The Comets auf und mischt auch in der Hamburger Hip-Hop-Szene mit, erst kürzlich in einem Konzert mit dem Rapper "Das Bo".

Einige Jahre hat es Kako genossen, der Enge der familiären Traditionen zu entfliehen. "Ich war so ein Typ, der froh war, wenn er weg war. ,Ich brauch das hier alles gar nicht', habe ich mir gesagt. Am Anfang war ich nur mit Nicht-Zigeunern unterwegs." Doch irgendwann, nach einer dreimonatigen Tournee, packte ihn das Heimweh. "Ich fühlte mich allein. Mir fehlte unsere Sprache und die Geborgenheit."

Da ist es zum ersten Mal, dieses Wort, dass einem auf Schritt und Tritt begegnet, wenn man die Sinti-Siedlung in Georgswerder besucht: Geborgenheit. Gut 500 Menschen leben in den 44 Reihenhäusern am Georgswerder Ring, die 1982 für die Hamburger Sinti gebaut wurden, nachdem ihr alter Wohnplatz einer Tankstelle weichen musste.

Die allermeisten von ihnen heißen Weiss. Kako wohnt mit seiner Frau und den beiden Kindern ein paar Meter weiter am Deich. In der Siedlung sei kein Platz mehr gewesen, sagt er.

"Hier erlebe ich eine Geborgenheit, die mich sicher macht", sagt Kako. Von früh auf war jeder Schritt nach draußen mit Ängsten belegt, vor allem der in die Schule: "Wenn meine Eltern gegangen sind, wurde ich panisch. Das ist so ein Unwohlsein. Da war die Geborgenheit nicht mehr da, das Umhüllte."

Kako wurde früh in die Sonderschule gesteckt, obwohl er nicht blöd war. "Da bin ich verblödet, weil das alles unter meinem Niveau war", sagt er. Als er in der 7. Klasse weg blieb, hat das keinen interessiert. Jahre später hat er auf dem Konservatorium Musik studiert.

Als er genug von den großen Bühnen hatte, tat Kako sich mit seinen Cousins zusammen und machte die Musik, die die Weiss und Reinhardts dieser Welt in die Wiege gelegt bekommen: den Swing von Django Reinhardt - jenes Belgiers, der nach dem Verlust zweier Finger einen Stil kreierte, der die europäische Musikgeschichte revolutionierte.

"Da stand ich plötzlich auf dem Straßenfest", erinnert sich Kako. Mit den Musikern seiner Familie und dem Gitarristen Clemens Rating gründete er das Café Royal Salon Orchester, das den Django-Reinhardt-Swing um ungarischen Csárdás und Wiener Kaffeehaus-Musik erweitert. "Das hatte dann wieder richtig Qualität, die Crème de la Crème der Musikstile."

Als das Café Royal Salon Orchester das Gipsy-Festival im Bürgerhaus Wilhelmsburg eröffnet, ist die halbe Siedlung herübergekommen, um die musikalischen Aushängeschilder der Familie zu bejubeln. Die jungen Frauen und Mädchen richten ihre Blicke hauptsächlich auf Kako, der neben seinen drei Onkels Pello, Bummel und Baro Kako an den Geigen und dem Akkordeon mit seinen Saxophon-Soli bezaubert.

Am lautesten klatscht sein Vater Goldi, der Vorsitzende des Sinti-Vereins, der sich besonders schick gemacht hat und dessen stattlicher Schnurrbart sich vor Stolz besonders weit aufzurichten scheint.

Für Kako folgt der Höhepunkt aber erst am nächsten Tag, als er den allerersten Auftritt mit seiner eigenen Band hat. Mit der bewegt er sich wieder etwas raus aus der Tradition und verbindet sie mit zeitgenössischem Jazz. "Ich bin sehr zufrieden. Mit der Band kann es jetzt wieder richtig losgehen", sagt er einen Tag nach dem Auftritt müde.

Es ist Sonntag, und als einer unter vielen steht er jetzt unter den Familienmitgliedern, die wie jeden Sonntag um kurz vor 19 Uhr ihre Häuser verlassen und auf die rote Blockhütte in der Mitte der Siedlung zugehen.

"Hütte der Geborgenheit", steht an einer Tafel über dem Eingang, gleich beginnt der Gottesdienst der "Gemeinde der Geborgenheit". Die meisten Sinti und Roma sind katholisch - die Familie Weiss aber ist evangelisch.

Wie es dazu kam, erzählt vor dem Gottesdienst der 83-jährige Emil Weiss, der Älteste der Siedlung. Wer sein Haus, das erste am Ring, betritt, kommt an einem Spalier voller Porzellanfiguren, Glasleuchter, Gemälden und sonstigem Trödel vorbei, den der Antiquitätenhändler im Laufe seines Lebens angesammelt hat.

Dazwischen ein selbst gebauter chinesischer Tempel und eine Weihnachtskrippe mit allen biblisch überlieferten Utensilien. Im Wohnzimmer geht der Museumsbesuch zwischen unzähligen Gläser, Figürchen und Heiligenfiguren weiter.

"Unsere Familie lebt seit 160 Jahren in Hamburg", erzählt Emil Weiss mit einem verschmitzten Unterton. "In der Zeit sind wir von Harburg nach Wilhelmsburg gekommen, das hätte eine Schnecke auch geschafft." In dieser langen Zeit gibt es eine Nacht, die bis heute jedes Kind der Familie Weiss als Erweckungserlebnis kennt: die Nacht der großen Hamburger Sturmflut vom 16. zum 17. Februar 1962.

Mit etwas erhobener Stimmer erzählt Emil Weiss, wie sich das Unheil ankündigte, wie die meisten Mitglieder der Familie, die damals ihren Wohnplatz an der Elbbrücke hatte, in der nahen Schule Unterschlupf fanden, wie er selbst sieben Menschen das Leben rettete, wie sein Vater mit Innensenator Helmut Schmidt, der mit einem britischen Hubschrauber angeflogen kam, die Evakuierung der Eingeschlossenen besprach und von dem Wunder, das sich ihnen offenbarte, als sie zu ihren Wagen zurückkehrten: Um sie herum war alles von den Fluten weggespült. "Aber von unseren Wagen fehlte nicht mal eine Deichsel."

Schon vorher hatte die Familie immer Besuch von einer evangelischen Missionarin bekommen, der Schwester Wehl. Die war mit ihren Bekehrungsversuchen bis zur Nacht der Sturmflut auf unüberbrückbare Widerstände gestoßen. Nun brachen die religiösen Dämme - und die geretteten Sinti wechselten zum evangelischen Glauben. Die "Gemeinde der Geborgenheit" entstand.

Die mittlerweile 91-jährige Gertrud Wehl besucht den Gottesdienst in der Sinti-Siedlung immer noch regelmäßig. Am Sonntagabend ist sie nicht unter Gemeindemitgliedern in der gut besuchten Hütte, dafür ein Gast-Pastor, der eine recht wacklige Brücke vom Atom-Unfall in Japan zur Hamburger Sturmflut schlägt. Beides seien Erweckungserlebnisse, die zur Umkehr mahnten.

"Heute gings mal um die Weltpolitik", sagt Emil Weiss auf dem Weg nach draußen. "Sonst haben wir andere Themen." Kako ist nicht mehr da. Man wird ihn wiedersehen - auf einer großen Bühne.

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