: Ei, Lyotard, Kakao
Immer diese impertinenten Jungautoren! Katrin Askan erzählt von brüchigen Identitäten: „Wiederholungstäter“
Ein Sturz aus dem Fenster. Ist die junge Frau also eine gescheiterte Selbstmörderin? Der Pfarrer fragt sie am Krankenbett, warum sie sterben wollte. „Weil ich ohnehin muss“, mutmaßt Katrin Askans Ich-Erzählerin in der Erzählung „Katzensprung“.
Das klingt ebenso lapidar wie hilflos. Alle zwölf Erzählungen des Bandes „Wiederholungstäter“ durchzieht eine solche Selbstverunsicherung. Das eigene Erleben erscheint als unheilvolle Kippfigur, die das persönliche Koordinatensystem ins Wanken bringt. Ist sie nun „gefallen, gesprungen oder gestoßen (worden)“, überlegt die vermeintliche Selbstmörderin, um auffallend unbeteiligt zu attestieren: „Es ist mir egal.“ Was wirklich geschehen ist, kann und will sie nicht mehr rekonstruieren. Schließlich kann es so und doch wieder ganz anders gewesen sein.
Wohl nicht zufällig blättert ein junger Bangkok-Tourist in einer anderen Geschichte ausgerechnet in einem Aufsatz von Jean-Françoise Lyotard. In Askans viertem Buch gewinnt man den Eindruck, als habe die 1966 in Ostberlin geborene und mittlerweile in Köln wohnhafte Autorin die Gebote der Postmoderne erst jetzt für sich entdeckt. Allen ihren Figuren wird das bisher Vertraute plötzlich fremd. Das Konstrukt einer Biografie entpuppt sich als labile Illusion. Insofern mag ein Hotelzimmer in Bangkok durchaus zum Abenteuergelände ausarten. Und bergen Liebhaber regelmäßig enttäuschendes Überraschungspotenzial.
Oder wie Snohl, der leidlich erfolgreiche Schriftsteller im Stück „Erster Klasse“, es ausdrückt: „Es ist ja nur eine Frage der Perspektive.“ Die eingeforderte Veränderung des Blicks unterstreicht Askan oft zusätzlich durch einen Ortswechsel. So wie in „Landläufig“, jener Kurzgeschichte, für die sie im letzten Jahr in Klagenfurt ausgezeichnet wurde. Hier gibt ein Urlaub auf Fuerteventura den Hintergrund ab für einen bedeutungsschwangeren Beziehungskrach. Marion, eine Ostdeutsche, sorgt sich beim Autoausflug um den Benzinverbrauch, während ihr Mann, ein Westdeutscher, ständig auf das Gaspedal drückt.
Das ist handwerklich gekonnt erzählt, wirkt in seinen Allegorien allerdings mitunter arg bemüht. Auch dann, wenn Anna, eine junge Ausländerin, in der Erzählung „95°“ vor lauter Heimweh eine Abneigung gegen die Eiflecken entwickelt, die ihr deutscher Mann auf der Tischdecke hinterlässt. Annas Identität ist bereits so angeknackst, dass sie sich an überflüssige Rituale klammert als quasi letzten Halt. Am liebsten, erfahren wir, mag Anna es, Kochwäsche zu waschen. Ihre brüchig gewordene Welt, lässt diese recht platte Symbolik vermuten, soll eben genauso makellos weiß werden wie ihre vom Frühstücksei gesäuberten Tischdecken.
An Stellen wie diesen droht die Handlung an der zugrunde liegenden Absicht zu ersticken, die dann allzu leicht enttarnt werden kann. Nichts scheint Askan offenbar mehr zu fürchten, als in die Ecke der jungen Berliner Nabelschauliteratur gerückt zu werden. Im Kontrast dazu ist sie um eine Aussage bemüht, will sich aber keinesfalls die Blöße einer Sentimentalität geben. Betont nüchtern bis hin zur Abgeklärtheit schildert sie Geschehen und Schicksale, beschreibt fast akribisch genau die Details. Das nimmt im schlechteren Fall den spröden Charme einer Versuchsanordnung an.
Im besseren trifft Askan damit allerdings genau den Ton eines lakonischen, hintergründigen Humors. Ihren selbstverliebten Schriftsteller Snohl kann man sich vorstellen. Wie er trotz seines fortgeschrittenen Alters noch von Stipendien lebt und gleichzeitig das Selbstbewusstsein nachrückender Autoren als „impertinent“ empfindet. Wie er beim Zugfahren davon träumt, mit einem Roman (bezeichnenderweise seiner Autobiografie) endlich groß herauszukommen. Wie ihm verschiedene Anfänge dafür durch den Kopf rauschen und am Ende doch nur sein eigener Name im Gedächtnis haften bleibt. Eine höchst zweifelhafte Etikette, wie wir und Askan wissen – nicht zuletzt dank Jean-François Lyotard. GISA FUNCK
Katrin Askan: „Wiederholungstäter“. Berlin Verlag, Berlin 2002, 256 S., 18 €
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