Ehemaliges KGB-Gefängnis in Lemberg: Die Tür zur Vergangenheit
Iwan Mamtschur ist sich sicher, die KGB-Knastzelle, in der er mehrere Monate saß, wiederzuerkennen. Ein Besuch im Lemberger „Museum Lonzki-Gefängnis“.
LEMBERG taz | Nur selten stockt die Stimme, wenn Iwan Mamtschur über seinen Aufenthalt im Gefängnis berichtet. Dann muss er kurz anhalten, um mit der Aufregung und den aufsteigenden Tränen fertig zu werden. Im kommenden Jahr wird er 90, seine weißen Haare sind sorgfältig nach hinten gekämmt. Heute ist er ins „Museum Lonzki-Gefängnis“ gekommen, um die Zelle zu suchen, in der er nach dem Zweiten Weltkrieg als „Volksfeind“ in Untersuchungshaft gesessen hat. Fast siebzig Jahre ist das her, und trotzdem sind die Bilder in seinem Gedächtnis präsent, als wäre es gestern geschehen. „Wenn ich meine Zelle sehe, werde ich sie sofort wiedererkennen“, sagt er.
Es war eine Einzelhaftzelle, in der Iwan Mamtschur zwischen August und November 1946 etwa drei Monate verbracht hat. Der Tag seiner Verhaftung fiel auf den 23. August – auf den Tag genau, nur sieben Jahre früher, hatten Deutschland und die Sowjetunion ihren Nichtangriffspakt unterzeichnet, der das Schicksal des damaligen Polen und Osteuropas besiegelte. Und letztendlich auch das Schicksal von Iwan Mamtschur für immer zeichnete. Wenige Tage später, am 1. September 1939, überfiel Nazi-Deutschland Polen – der Zweite Weltkrieg begann; einige Wochen später marschierte die Sowjetarmee in Galizien und in Lemberg ein, das damals zu Polen gehörte.
Das frühere Gefängnis verbirgt sich hinter einem unscheinbaren Eingang in der wenig befahrenen Brjullow-Straße. Gleich um die Ecke klettert die alte Straßenbahn den Hügel in Richtung Hauptbahnhof hinauf, vorbei an den Bauten der Technischen Universität. Auf dem kleinen Platz gegenüber sprengt eine symbolische Figur das Gefängnisgitter, sie hat sich schon fast befreit, aber das Gitter gibt die Gestalt nicht endgültig frei. Es ist das in den 1990er Jahren errichtete Denkmal für Opfer der kommunistischen Verbrechen, an dem immer frische Blumen und Kränze liegen.
Das Lonzki-Gefängnis in der Brjullow-Straße gehört zu den tragischsten Kapiteln in der Geschichte Lembergs. Früher einmal hieß sie Lonzki-Straße (polnisch: ul. Lackiego), und über das Gefängnis in dieser Straße wurde in der Sowjetzeit in Lemberger Familien nur im angsterfüllten Flüsterton gesprochen. Seit 2009 befindet sich in seinen Räumen ein Museum, das in der Ukraine einmalig ist und als Inbegriff politischer Verfolgung im 20. Jahrhundert schlechthin gilt.
Iwan Mamtschur steigt die Treppe hoch. Er muss sich am Geländer halten, ansonsten sind seine Schritte fest. Seine Bewegungen sind vielleicht etwas hastig, man spürt, wie aufgewühlt er ist. „Die Zelle hat sich wohl über der Küche befunden, man konnte sämtliche Gerüche wahrnehmen. Auch Fliegen, Ratten und Kakerlaken gab es zuhauf.“ Aus der Kanalisation habe es stets gestunken, erinnert er sich, im Eck hinter der Eingangstür ragte ein gusseisernes Rohr ohne Geruchsverschluss hervor, das auch als Abort diente.
Chrystyna Saburanna begleitet den 89-Jährigen bei der Suche nach seiner früheren Zelle. Seit bald vier Jahren arbeitet sie hier als Museumsführerin und kennt mittlerweile jede Ecke im ehemaligen Gefängnis. Manchmal bekommt sie Besuch von Menschen, die hier eingesessen haben. „Sie erzählen mir dann ihre Geschichten, es ist immer herzzerreißend. Viele sind es nicht, es leben ja nur noch einige wenige. Aber hier in der Westukraine war fast jede Familie irgendwie betroffen.“
Ein politisches Gefängnis
Auch Iwan Mamtschur hat ihr seine Geschichte erzählt. Er stammt aus dem kleinen Dorf Rokytne in der Nähe von Lemberg. Im August 1946, dem Monat seiner Verhaftung, bereitete sich der 21-Jährige eigentlich auf das Studium am Polytechnischen Institut, der heutigen TU, vor – zugleich verteilte er im Untergrund Flugblätter gegen die Sowjets. Er wurde zu zehn Jahren Haft verurteilt, bis auf die Untersuchungshaft verbrachte er fast die ganze Zeit in den Lagern des Gulag.
Der sowjetische Geheimdienst KGB „regierte“ das Lonzki-Gefängnis die längste Zeit. Errichtet wurde es als Nebenbau einer ehemaligen k. u. k. Gendarmerie direkt nach dem Ersten Weltkrieg, als Lemberg nach knapp 150 Jahren Habsburger Herrschaft wieder zu Polen kam. Seither wurde das Gebäude das gesamte 20. Jahrhundert hindurch als politisches Gefängnis genutzt. Vor dem Zweiten Weltkrieg war es die 4. Abteilung der polnischen Staatspolizei, die hier inoffiziell politische Gefangene internierte.
Nach Kriegsausbruch im September 1939 und dem Einmarsch der sowjetischen Armee in Galizien residierte dann von 1939 bis 1941 die sowjetische politische Geheimpolizei NKWD im Gebäude. Während der deutschen Besatzung fungierte es als Untersuchungsgefängnis der Gestapo. Der Gefängnishof wurde mit Grabplatten des alten jüdischen Friedhofs gepflastert. Ab 1944 wurde das Gefängnis wieder vom NKWD sowie seinen Nachfolgeorganisationen MGB und KGB genutzt. Auch nach dem Zerfall der Sowjetunion blieb das Gebäude in den ersten Jahren nach der Unabhängigkeit der Ukraine ein Gefängnis. Erst 1996 erfolgte seine endgültige Schließung.
Iwan Mamtschur geht langsam den Korridor entlang und guckt in jede Zelle herein. Er weiß noch die damalige Nummer seiner Zelle, die 22 war es, aber die Nummerierung ist heute nicht mehr vorhanden, jede Tür gleicht der nächsten. So muss Chrystyna Saburanna einige Zellen für ihn aufsperren – andere sind als Teil der Ausstellung frei zugänglich, wie etwa die Todeszelle, der Wasch- und WC-Raum, das Büro des „Untersuchungsführers“ und eine der Einzelhaftzellen.
Hier muss es gewesen sein
Doch es ist nicht die von Iwan Mamtschur. Zugänglich für Museumsbesucher liegt sie im Erdgeschoss, er kann sich aber gut erinnern, wie er damals die Treppe hochgeführt wurde. Und wie er aus dem kleinen vergitterten Fenster, vielleicht gerade mal 50 mal 50 Zentimeter klein, mit einer Halsverrenkung einen Teil der Gefängnismauer bis zur Straßenkreuzung sehen konnte. Chrystyna Saburanna schließt die nächste rötlich-braun gestrichene Stahltür auf, und Iwan Mamtschur weiß es plötzlich ganz genau: Hier muss es gewesen sein.
Er betritt den Fußboden aus dicken Brettern, zwischen denen große Spalten klaffen, und breitet beide Arme aus. „Das ist die Zelle“, sagt er noch etwas ungläubig. „Genauso schmal war sie, ich konnte gerade die Arme ausbreiten, und sie war kaum länger als drei Meter.“ Das Kanalisationsrohr in der Ecke gibt es nicht mehr, und es riecht nicht mehr nach Küche, sondern nach Staub, ansonsten ist alles so erhalten geblieben, wie es wohl schon damals gewesen ist.
Auch das kleine vergitterte Fenster oben unter der Decke gibt es noch. Mamtschur schafft es nicht mehr, auf den klapprigen Tisch zu steigen, um aus dem Fenster zu gucken, deswegen bittet er seinen Begleiter, das zu tun. Dreht man den Kopf nach links, ist tatsächlich noch die Gefängnismauer zu sehen, aber nicht mehr die Straßenkreuzung. Ein großer Baum versperrt heute die Sicht darauf.
Die Frauen stickten
Iwan Mamtschur konnte keine persönlichen Gegenstände aus seiner Gefängniszeit retten. Viele weibliche Häftlinge schon. Besonders beliebt waren Stickereien, deren wichtigstes Motiv Ikonen und Gebetssprüche waren. Die Frauen improvisierten Nadeln aus Fischgräten und lösten einzelne Farbfäden aus ihren Kleidern, um damit Bilder der Mutter Gottes, von Heiligen, Engeln oder Kreuze auf Stofffetzen zu sticken, die ihnen bei der Kontrolle nicht weggenommen worden waren.
Eigentlich hatte Iwan Mamtschur noch Glück. Für seine Flugblattaktion und die Tätigkeit im Untergrund der Organisation der Ukrainischen Nationalisten erhielt er zehn Jahre Haft, anschließend fünf Jahre Entzug der Bürgerrechte. Ein Standardurteil – im Eilverfahren ergangen wie für all diejenigen, die die Untersuchungshaft überstanden hatten, schuldig gesprochen wegen „Hochverrats“ und „Konterrevolution“. Nach Stalins Tod kam Iwan Mamschtur 1954 frei.
Der tödliche Juni 1941
Wer von den sowjetischen Truppen nach der Besetzung im September 1939 verhaftet worden war, hatte weniger Glück. Der Terror der Stalin-Zeit richtete sich zunächst gegen die polnische Bevölkerung, dann kamen die Ukrainer an die Reihe. Kurz nach dem Überfall der Deutschen auf die Sowjetunion und vor der panikartigen Flucht der Sowjetarmee aus Galizien hatte der NKWD keine Zeit und keine Lust mehr, sich um seine politischen Gefangenen zu kümmern – der Massenmord der Sowjets im Juni 1941 ist Teil der Ausstellung im Museum.
Allein im Lonzki-Gefängnis wurden in den letzten Junitagen 1.681 Menschen umgebracht. Insgesamt starben damals über 15.000 Menschen in Galizien, genaue Zahlen gibt es bis heute nicht. Die Nationalsozialisten nutzten nach ihrem Einmarsch die Bilder der Ermordeten für Propaganda gegen die Sowjets, Moskau schob später den Nazis die Schuld in die Schuhe. Die Schlacht zweier Massenmörder entflammte auch um die Toten.
„Wenn du wissen willst, was mit uns passiert ist, warte auf uns“ – diese Inschrift ist in eine Mauer im Dachgeschoss des Gefängnisses eingeritzt. Darunter eine Jahreszahl: 1954. „Die Häftlinge haben wohl das Dach repariert und diese Nachricht hinterlassen“, meint Chrystyna Saburanna. „Die Aufseher waren nicht aufmerksam genug.“
Auch auf Iwan Mamtschur mussten seine Angehörigen trotz Entlassung noch lange warten. Sechs lange Jahre lebte er in Kasachstan, nach seiner Rückkehr im Jahr 1960 führte er ein unauffälliges Leben als Bauingenieur in Dolyna, einer Kleinstadt in den ukrainischen Vorkarpaten. Er spürte zwar die ständige Beobachtung durch den KGB, sagt er heute, aber wie weit sie ging, sei ihm nicht bewusst gewesen. Bis er – das war schon nach dem Zerfall der Sowjetunion – in seinem Werkzeugkasten die alte Fütterung ersetzen wollte und dort einen komischen Gegenstand fand.
Etwas größer und nicht dicker als eine 5-Kopeken-Münze, an der Seite eine kleine Antenne angelötet. „Iwan bleibt immer gefasst, das ist bemerkenswert“, sagt Chrystyna Saburanna. „Nur wenn er von der ’Wanze’ erzählt, kommen ihm immer die Tränen.“ Es muss sehr schmerzhaft sein, plötzlich zu erfahren, dass der „Big Brother“ auch später noch die intimsten Gespräche mitgeschnitten hat.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Stellenabbau bei Thyssenkrupp
Kommen jetzt die stahlharten Zeiten?
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Greenpeace-Mitarbeiter über Aufrüstung
„Das 2-Prozent-Ziel ist willkürlich gesetzt“
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Iran als Bedrohung Israels
„Iran könnte ein Arsenal an Atomwaffen bauen“