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Ehemaliger Regierungsberater Tim Jackson"Was heißt schon Kapitalismus?"

Tim Jackson war mal Berater der britischen Regierung. Wohlstand durch Wachstum? Muss man nach der Krise gar nicht mehr drüber reden. Das System müsse umstrukturiert werden.

Tim Jackson sagt: Heute sind andere Dinge wichtig als damals, als man das BIP erfand. Bild: Anja Weber
Johannes Gernert
Interview von Johannes Gernert

taz: Mr. Jackson, Sie haben ein Buch veröffentlicht mit dem Titel "Wohlstand ohne Wachstum", und Sie waren der erste Professor für nachhaltige Entwicklung in Großbritannien. Lassen Sie uns doch erst mal über das Wachstum auf Ihrem Konto sprechen. Ist Ihr Gehalt in den vergangenen Jahren gewachsen?

Tim Jackson: Ein bisschen.

Nur ein bisschen?

Man ist kein Großverdiener als Universitätsprofessor, wenn man das mit dem Finanzsektor vergleicht. Aber natürlich verdiene ich heute mehr. Und um Ihre nächste Frage gleich vorwegzunehmen: Eine Wirtschaft, die nicht wächst, ist nicht zwangsläufig eine Wirtschaft, in der man keine Karrierefortschritte machen kann. Mehr Geld für mehr Erfahrung, das schließt die Idee vom Wohlstand ohne Wachstum nicht aus.

Sie kritisieren, dass das Wachstum - gemessen als Zuwachs des Bruttoinlandsprodukts - eine übertrieben große Rolle in unserer Gesellschaft spielt. Warum?

Wir dürfen nicht davon ausgehen, dass diese Art von Wachstum gesellschaftlichen Fortschritt bedeutet. Es gibt Auskunft darüber, was gekauft wird, was ausgegeben wird, was Leute verdienen, welche Profite sie machen. Mittlerweile gehen wir aber davon aus, dass Wirtschaftswachstum ein Synonym für Fortschritt ist.

Warum ist es das nicht?

Umweltverschmutzung etwa trägt zum BIP bei, mindert aber unsere Lebensqualität. Staus tragen zum BIP bei, Unfälle. Das Wachstum des BIP schadet den Menschen, der Lebensqualität, unseren Umweltressourcen. Das berücksichtigen wir in der Rechnung nicht.

Bild: taz
Im Interview: 

Dieser Text aus dem sonntaz-Spezial "Wo grünes Wachstum greift" und viele andere spannende Geschichten lesen Sie in der sonntaz vom 11. und 12. & 13. Juni 2011 – ab Sonnabend zusammen mit der taz an ihrem Kiosk oder am eKiosk auf taz.de. Die sonntaz kommt auch zu Ihnen nach Hause: per Wochenendabo. Und für Fans und Freunde: facebook.com/sonntaz

Tim Jackson

ist Professor für nachhaltige Entwicklung an der Universität von Surrey in Großbritannien. Er schrieb auch schon Umwelthörspiele für die BBC. Sein aktuelles Buch heißt "Wohlstand ohne Wachstum". ISBN-13: 9783865812452 | ISBN-10: 3865812457

Wie ist das BIP zum Fortschrittssynonym geworden?

Solche Maße erfassten ursprünglich Dinge, die wirklich wichtig für uns waren: die Produktion von Essen, den Bau von Häusern, die Herstellung von Kleidung. Das Wachstum der Wirtschaft spiegelte so das Wohlbefinden wider. Damals aber schon zeigte sich, dass es Grenzen gibt - allein schon für die Kleidungsstücke, die man braucht.

Wo ist das Problem?

Dank des technologischen Fortschritts wurde sehr effizient produziert. Wenn man aber immer mehr mit immer weniger Leuten herstellt, verliert jemand seinen Job. Um das zu verhindern, muss noch viel mehr produziert werden. Die Gleichung hieß nun: Wachstum gleich Jobs. Es entstand eine Dynamik, die uns in die Wachstumslogik zwängte.

Wenn Sie die BIP-Nachrichten lesen, den neuesten Wachstumsstand, was empfinden Sie?

Es ist wohl eine Mischung aus Ärger und Hohn - weil diese Leute ihr Wachstumsmantra herunterbeten, ohne die Auswirkungen zu begreifen, fast religiös. Manchmal sitze ich in Konferenzen mit Kollegen zusammen, die ich eigentlich sympathisch finde. Wir verfassen ein Paper über die Wirtschaft der Zukunft, und sie möchten auf den ersten Seiten etwas Ermutigendes über Wachstum schreiben. Warum? Ich will gar nicht, dass sie das Wachstum verteufeln. Ich frage nur: Warum müssen wir das W-Wort überhaupt erwähnen? Was zählt, sind doch Jobs, das Wohl der Menschen.

Sie schlagen einen anderen Ansatz vor.

Wir brauchen eine makroökonomische Theorie, in der unsere Lebensqualität nicht mehr vom wachsenden Konsum abhängt. Dieses Konsumwachstum bedroht unsere Ressourcen, die Umwelt, es unterminiert den sozialen Zusammenhalt. Erstens muss also das Wachstum ökologisch gezügelt werden. Zweitens darf die Stabilität nicht nur vom Konsumwachstum abhängen.

Schwierig wird es, wenn man sich konkret fragt: Wer bestimmt, welche Firma wie wachsen darf?

Ich weiß gar nicht, ob das nötig ist. Das hieße ja wirklich, dass man das von Unternehmen zu Unternehmen festlegt. Das wäre ein sehr interventionistischer Ansatz.

Aber irgendwie muss das Wachstum geregelt werden …

Es müssten ökonomische Aktivitäten gefördert werden, die dann zum Kern der neuen nachhaltigeren Wirtschaft würden. Besonders zwei Sektoren: grüne Technologien und Infrastrukturen auf der einen und Dienstleistungen auf der anderen Seite. Also: Gesundheitserziehung, die Erhaltung von Parks, Gärten, von ökologischen Anlagen, die Restaurierung von Gebäuden, die Erhaltung unseres Erbes. Dort müsste man das Wachstum stärken und es in den schädlichen Sektoren begrenzen.

Wie soll das konkret funktionieren?

Man könnte steuerliche Anreize schaffen - Vergünstigungen, Kredite. Eine andere Möglichkeit: klare ökologische Grenzen festsetzen, besonders für den Verbrauch knapper Ressourcen. Das alles müsste aber viel weiter gehen. Die Finanzmärkte müssen neu geordnet werden, die Spekulationen eingedämmt. Sie schlagen die Gewinne einigen wenigen zu. Der Besitz muss in die Hände von vielen gegeben werden. Klar, auch dieses Vorgehen ist interventionistisch, aber es bedeutet nicht, sich jedes einzelne Unternehmen vorzunehmen, sondern es hieße, Rahmenbedingungen zu schaffen, die diese Sektoren entwickeln und voranbringen.

Wachstum ist die Grundlage für Investitionen. Wer keine Rendite erwartet, investiert nicht. Im Grunde fordern Sie also die Abschaffung des Kapitalismus.

Was heißt schon Kapitalismus. Es bringt nichts, sich hier in solchen Gegensätzen zu verheddern. Der Kapitalismus nimmt die unterschiedlichsten Formen an. Die erfolgreichste kapitalistische Wirtschaft der Welt ist derzeit wohl eine kommunistische. Sicher: Die theoretische Frage ist eine riesige Herausforderung. Auf einer anderen Ebene ändert sich aber schon etwas. Gerade nach der Finanzkrise sind etliche Graswurzelexperimente gewachsen: andere Formen der Investition, Gemeinwohlökonomien, die die Profite nicht an die Shareholder abführen, sondern sie in die Community reinvestieren. Trivident ist ein belgisches Projekt. Trivident statt Dividende - es soll ökologische, soziale und finanzielle Gewinne abwerfen. Das Unternehmen will kleine soziale Projekte mit sozialen und ökologischen Zielen unterstützen. Eine vergleichbare Unternehmung in den USA nennt sich Unified Field.

Kritik an Wachstumsfixiertheit gibt es schon länger. Warum sollte sich jetzt etwas ändern?

Junge, kluge Studenten im Wirtschaftsgrundstudium sind versessen darauf, eine andere Art von Makroökonomie kennenzulernen. Wenn sie eine andere Art von Wirtschaft fordern, werden sie früher oder später eine bekommen. Das ist das Gesetz von Angebot und Nachfrage.

Die Ideen werden sich verbreiten, wenn es nur genug Köpfe gibt, die das tun?

Die Wirtschaft ist in einer Krise. Das hat die Finanzkrise deutlich gemacht. Unsere Vorhersagen, wie Wirtschaften sich verhalten, wie sich Wachstum aufrechterhalten lässt, sind alle auseinandergefallen - alle zur selben Zeit. Und dennoch hat sich seitdem kaum etwas geändert. Es gibt ein wenig mehr Demut. Sicher nicht das Ausmaß an Reform, das wir uns gewünscht hätten. Aber der Respekt für ökonomische Besonnenheit ist gewachsen. Und ich beobachte mehr Offenheit in der finanzpolitischen Debatte. Das Weltwirtschaftsforum in Davos ist da ein interessantes Beispiel.

Wieso?

Die Sprache hat sich über die Jahre verändert. 2008 gab es nicht den leisesten Zweifel an den Wachstumstheorien. 2009, direkt nach der Krise, spürte man dann ein anderes Bewusstsein: Scheiße, was machen wir hier eigentlich? Wie kriegen wir wieder Wachstum? 2010 fand sich auf der Homepage von Davos das Wort Wachstum quasi nicht mehr, stattdessen viele neue Ideen von Nachhaltigkeit.

Und in den Nachrichten? BIP, BIP, BIP. Wachstum, Wachstum, Wachstum.

Man kann sicher skeptisch argumentieren, dass sich nicht wirklich etwas getan hat. Man kann aber auch sagen: Die Sprache, die Ideen haben sich sehr wohl geändert.

Genügt es schon, das Vokabular zu ändern?

Das Vokabular zu ändern bedeutet nicht, das System umzustrukturieren. Das ist die eigentliche Aufgabe.

Es schien nach der Krise viele wachstumskritische Stimmen zu geben, auch da, wo man das nicht erwartet hätte. Sobald das Wachstum wieder anzog, verstummten viele.

Die Leute denken, die wirtschaftliche Erholung sei schon da. Das Verlangen nach sozialer Aktivität ist meist sehr kurz und hängt stark von bestimmten Umständen ab. Diese Umstände haben sich wieder geändert. Ich bin mir allerdings nicht ganz sicher, ob es so völlig still geworden ist. In Großbritannien etwa haben wir eine neue konservative Regierung, die gerade ein anderes ideologisches Regime etabliert, mit einem stark reduzierten sozialen Engagement des Staates. Wir haben jetzt politische Unruhen, wie es sie seit den Zeiten von Margaret Thatcher nicht mehr gab.

Gleichzeitig will die Cameron-Regierung einen Glücksindex einführen, der das BIP ergänzt.

Das Interessante daran ist, dass sie offenbar vergessen haben, dass die Vorgängerregierung schon einen Wohlstandsindex ins Leben gerufen hat.

Sie haben Gordon Brown dabei beraten, den Premier dieser Vorgängerregierung.

Das ist eine tolle Sache, über einen Glücksindex nachzudenken. Aber in Zeiten solcher Sparpolitik wirkt es doch ein wenig wie Schönfärberei.

Sind Sie selbst glücklich?

Äh … manchmal. Wenn ich über Wohlstand spreche, dann bedeutet Glück für mich nicht, einen kleine Haken hinter eine Frage zu setzen, etwa so: Ich bin zufrieden, alles supi! Seht, wie glücklich ich bin! Nein: Glück, Wohlbefinden, Aufblühen ist für mich etwas anderes. Für mich ist es wichtig, sich zu engagieren, gesellschaftlich. In dem Versuch, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Und es gehört dazu, davon ein wenig aufgezehrt zu werden. Der Schriftsteller George Bernhard Shaw hat gesagt: Am Ende meines Lebens will ich mich verbraucht fühlen.

Sie wirken gerade sehr erschöpft. Fühlen Sie sich schon jetzt verbraucht?

Manchmal fühlt es sich so an, ja. Und manchmal wünschte ich, es würde sich nicht ganz so sehr anfühlen.

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8 Kommentare

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  • RE
    Reinhard Eggers-Frie

    Was Jackson als interventionistisch bezeichnet, ist wahrscheinlich nicht ganz zu umgehen. Was machen denn die Lobbyisten der Konzerne in Berlin, Brüssel usw. anderes? Nur dient das nicht dem Gemeinwohl! Weswegen sie lt. GG ja enteignet werden könnten. Demokratische Intervention z.B. bei der Rekommunalisierung der Stromnetze!

  • D
    DonG

    Ha - Ha! Schon zwei Artikel weiter unten: "Japan" steht dann:

    "Im ersten Halbjahr 2011 dürfte die Wirtschaftsleistung Japans zwar schrumpfen. Doch staatliche Ausgaben für den Wiederaufbau und höhere Firmeninvestitionen sollen spätestens ab Oktober die Konjunktur kräftig ankurbeln"

     

    Ein Schelm, wer böses dabei denkt.

  • D
    Dong

    Auf der Höhe der Finanzkrise hat es Georg Schramm wunderbar auf den Punkt gebracht - "wir haben unsere Fahrt in die Sackgasse verlangsamt."

     

    Den gemeinen Bilderberger - sie tagen mal wieder in der Schweiz - ringen solche Artikel wohl nur ein müdes Lächeln ab.

  • MF
    M. Felden

    Das Ziel Wohlstand ohne Wachstum ist vollkommen richtig, nur bleibt die Frage, wie unser Wirtschaftssystem geändert werden kann. Es ist doch quasi ein Naturgesetz, daß es ein anzustrebender Erfolg ist, mit gleichen Mitteln mehr zu erreichen als in der Vergangenheit. Aus Gründen der Effizienz muß man das begrüßen. Qualitatives Wachstum kann diese Situation nur zu einem kleinen Teil ändern.

     

    Der nächste Punkt ist die Verteilung. Eine Steigerung des quantitativen Wachstums wäre zu begrüßen wenn ihre Früchte sinnvoll verteilt würden und nicht Wenigen zur Verschwendung diente.

  • G
    guntherKummerlande

    In deutschen Unis im Fach BWL wird in Klausuren

    meist nur Konformität, kognitive Schnelligkeit

    und Vollständigkeit überprüft.

     

    Schön das wenigstens die Engländer den Sinn

    von Bildung wirklich verstanden haben.

  • JF
    Johann Fetzer

    Das war Jackosn will, gibt es, nur viel konkreter,als er es i, o.a. Artikel fomuliert: es nennt sich "Bandbreitenmodell" und bietet DEN Ausweg aus der Wachtumsökonomie, welches den Unternehmer bestraft, welcher Menschen zu auskömmlichen Löhnen unbefrsitet einstellt.

     

    Die Grundidee: Alle Steuern werden abgeschafft, bis auf eine echte Umsatzsteuer. Bei 19 % auf 5,4 Billionen Binneumsatz in Deutschland hat der Staat mit 1,03 Billionen die doppelten Seutereinnahmen wie heute.

     

    Durch durch den Überschuss können Rente und Krankenversichrung gespeist werden,a uch kann die Staatsverschuldung signifikant zurückgefahren werden.

     

    Alle Arbeitnehmer haben dadurch Brutto wie netto, da die Steuern und Sozialabgaben schon durch die Umsatzsteuereinnahmen gedeckt sind. Unternehmer müssen keinen Gewinn mehr versteuern, auch deren teuere privat Krankenversicherung entfällt.

    Das einzige Minus ist, das die Unternehmer keine Vrosteuer mehr absetzten können.

     

    Jeder kann sich vorstellen, welche Kaufkraft-Explosion dies nach sich zieht, wenn alle 50 % mehr in der Tasche haben.

     

    Unternehmen können durhc Einstellungen Ihren Umsatzsteuersatz senken. Die höchsten Sätze zahlen ausländische Importeure, bis sie in Deutschland produzieren. (so wie Brasilien z.B. dies auch tut).

     

    Soviele Probleme werden gelöst: Altersarmut, Kinderarmut, Arbeitslosigkeit, Hartz, IV....

     

    Googlet mal nach "Bandbreitenmodell".

  • RK
    Ruediger Kalupner

    "Die theoretische Frage ist eine riesige Herausforderung." Herrn Jackson sollte sich über den Erkenntnisstand der KREATIVEN informieren.

     

    Die Herausforderung, die Theorie u n d die Steuerungsinstrumente für ein Wohlstand ohne Wachstum zu formulieren, ist schon erfolgreich beantwortet: durch die KREATIVEN, 1. evolutionistische Partei der Welt.

     

    Eine kybernetische Evolutionsprozess- und Chaosphysik ist formuliert, die den nachhaltigen Fortschrittspfad im Evolutionsmodell steuerungsintrumentell und politisch-projektfähig beschreibt. Dieser Erkenntnisstand ist machtpolitisch mehrmals erfolgreich getestet worden - in einem Genie- und-Panikspiel mit den Vertretern der Macht-Nr.1 in D. Er muß nur in die öffentliche Diskussion geraten, um den Exodus aus dem 2%Wachstumszwang-Regime der Kapitalstock-Maximierer zu starten.

  • H
    hto

    Ein Zusammenleben OHNE Steuern usw. ist absolut machbar - aber weil das "Zusammenleben" in Konfusion durch Überproduktion von Kommunikationsmüll so herrlich ...!?