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Ego Ohne die Aufarbeitung unserer eigenen emotionalen Defizite ist es nicht möglich, die Gesellschaft zu verändern. Ein Gespräch„Der Wandel fängt bei uns selbst an“

Bäume 2: lebensstrotzend, inspirierend. Manchmal nistet sich an ihnen jedoch ein Schmarotzer fest – wie das Ego am Selbst Fotos: Camilla Elle

Von Ronald Engert und Gabriele Sigg

Gabriele Sigg: In unserer Gesellschaft lassen sich heute zwei Hauptströmungen beobachten. Die eine entspricht der traditionellen hierarchischen Struktur fester Regeln und kollektiver moralischer Vereinbarungen. Dagegen rebellierte die Aufklärung. Jeder Einzelne sollte sich aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit befreien. Freiheit ist heute ein „Anything goes“, die zweite Strömung. Dabei sehen wir jetzt auch die negativen Auswirkungen dieser radikalen Ablösung: gesellschaftliche und psychische Desintegration. Der Soziologe Émile Durkheim nannte diese Orientierungslosigkeit Anomie. Es stellt sich die Frage, inwiefern Menschen vielleicht doch Strukturen brauchen.

Ronald Engert:Heute sind wir bei einem hohen Maß an Freiheit angekommen. Dies führt aber zu einem Verlust verbindlicher Werte. Es zeigt sich, dass ein blanker Relativismus der Werte, wo jeder tun und lassen kann, was er will, auch zu Egoismus und Willkür führt. Wenn jeder selbst beurteilen kann, gibt es keine verbindlichen Bezugssysteme für ethisches Verhalten.

Dennoch finde ich den Ansatz richtig, dass jeder selbst am besten beurteilen kann, was für ihn richtig ist. Dazu müssen wir aber zwischen einem Ego und einem Selbst unterscheiden. Das Ego handelt willkürlich und beliebig, das Selbst weiß, was richtig und falsch ist, ohne eine moralische Regel zu benötigen. Nach Hannah Arendt besitzt jeder Mensch die Fähigkeit, ein moralisches Urteil fällen zu können. Natürlich stehen die Bedürfnisse des Egos dem Selbst manchmal im Wege.

Es gibt verschiedene Formen von Dysfunktionen in dieser Per­sönlichkeit: Schatten­anteile, also emotionale Verletzungen, die nicht geheilt sind, und sich so von der eigenen Persönlichkeit abspalten. Ein Mangel unserer Persönlichkeit besteht darin, nicht mit sich selbst in Kontakt zu sein, woraus dann der Wunsch resultiert, sich Befriedigung über materielle Güter und Bestätigung im Außen zu holen.

Die traditionelle Struktur hat versucht, dieses egoistisch-emotionale Wesen zu kontrollieren, in dem sie ihm moralische Kodizes übergestülpt hat. Um aber zu wirklicher Ethik und Freiheit zu gelangen, muss sich der Einzelne diesen Schattenanteilen stellen, wie der bekannte Psychoanalytiker Jung empfahl.

Das erfordert einen psychischen und emotionalen Heilungsprozess, um von den falschen zu den richtigen Gefühlen zu kommen. Es gibt Pseudogefühle, die durch das Ego motiviert sind und durch das Denken ausgelöst werden. Echte Gefühle hingegen gilt es ernst zu nehmen, um die eigene Biografie in die Heilung zu bringen.

Die Aufklärung stellt die Vernunft über das Gefühl, aber das schafft eine Trennung, die uns von unserem Selbst abspaltet. Nehmen wir das Gefühl Angst. Ich gehe auf einer Straße und es entsteht eine starke Angst in mir, die mich dazu bewegt, in eine Seitenstraße zu biegen. Kurze Zeit später rast ein Auto mit überhöhter Geschwindigkeit auf der Hauptstraße vorbei. Ein echtes Gefühl hat mich davor gewarnt, überfahren zu werden. Im Gegensatz dazu die unechte Angst: Wenn die Medien beispielsweise von Arbeitslosigkeit berichten, kann ich Angst bekommen, meine Arbeit zu verlieren, obwohl es dazu gar keinen Grund gibt.

Fotos: privat
Gabriele Sigg, Ronald Engert

Gabriele Sigg, geboren 1984, promoviert im Fach Soziologie an der Humboldt-Universität Berlin.

Ronald Engert, geboren 1961, ist Herausgeber und Chefredakteur von Tattva Viveka.

Echte Gefühle sollte man ernst nehmen, mental induzierte nicht. Im Kapitalismus werden Gefühle geschaffen, damit der Einzelne jeweils in einer Konkurrenzsituation und einem Mangelgefühl gehalten wird. Es stellt sich die Frage, ob es reicht, allein die persönlichen Anteile zu heilen, um eine gesunde Gesellschaft zu schaffen.

Allein die Person zu heilen reicht nicht aus. Eine Gesellschaft ist nicht nur die Summe von vielen Individuen, sondern durch Strukturen untereinander verbunden. Wenn wir nur an der persönlichen Psyche ansetzen, machen wir uns etwas vor. Andererseits können wir die Strukturen nicht nachhaltig verändern, ohne uns selbst zu heilen. Parallel dazu sollten Aspekte der materiellen Welt wie Straßenverkehr oder die Ausleihfrist von Büchern über die Verteilungsgerechtigkeit geregelt werden. Die Ausbildung der Ethik der menschlichen Person benötigt hingegen eine andere Form der Organisation.

Der innere persönliche Kern des Selbst, die Selbstheit an sich, kann ohnehin nicht durch Regeln kontrolliert werden. Da ist eigenes ethisches Urteilsvermögen, gefühlte Ethik gefragt.

Und es muss einen gesellschaftlichen Raum geben, wo man das einüben kann. Das beginnt bei der Kindererziehung zu Hause und in der Schule.

Philosophisch gesagt: Das subjektive Wesen benötigt die Entwicklung einer inneren Reife, die sich wiederum in den äußeren Ebenen niederschlägt, in der Form von Strukturen für Menschen, die Weisheit entwickeln wollen. Das war bei Aristoteles die Phronesis, die der Philosoph Paul Ricoeur mit „praktische Weisheit“ übersetzt.

Du warst selbst radikaler Linker. Wie hast du gemerkt, dass du einerseits wahre Missstände anprangerst, gleichzeitig aber auch deine eigenen Probleme darauf projizierst?

Im Grunde war es eine Rebellion gegen die Autoritäten, jede Regel war inakzeptabel. Damals aus gutem Grund. Wir haben jedoch alle Werte negiert, ohne die Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen. Ich habe mich über den Kampf gegen die Autorität, gegen den Übervater, definiert. Später erkannte ich, dass ich mich über diese negative Identifikation erst recht von der Autorität abhängig machte und deshalb kein eigenes Urteilsvermögen entwickelte.

An diesem Punkt wäre es nun wichtig, nochmals die politischen Strukturen zu betrachten. Denn ungerechte Strukturen können nur über politische Handlungen gelöst werden. Die esoterische New-Age-Bewegung und die postmoderne Psychologie verkennen jedoch die dialektische Verbindung von Individuum und gesellschaftlichen Strukturen. Damit machen sie sich – bewusst oder unbewusst – selbst zum Diener unserer Leistungsgesellschaft, die dem Einzelnen jegliche Verantwortung für Versagen oder Erfolg zuschreibt.

Um zu gesunden Strukturen zu gelangen, ist eine innere Heilung unerlässlich. Dadurch ist ein sauberes Urteil über die äußeren Verhältnisse möglich, das zu richtigen Handlungen führen kann. Auch zu politischen.

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