Editorial: An uns liegt es nicht!
Von Unserer Redaktion
Als gäbe es derzeit nicht schon genug schlechte Nachrichten, jetzt auch noch das: Der Weinkonsum geht zurück. Vor allem der von deutschem Wein. Aber Bundesagrarminister Alois Rainer (CSU) hat eine Idee: Bis zu einer Million Euro spendiert er für eine Werbekampagne pro Deutschem Wein. Prost! Entschuldigung, es geht selbstverständlich nicht um Werbung fürs Saufen, sondern um eine „Informationsoffensive der Branche, die den deutschen Wein als Botschafter für Qualität, Vielfalt und Innovation in Deutschland und weltweit stärken soll“, zitiert die taz ein Schreiben des Bundesagrarministeriums.
Zugegeben, Politik kann manchmal etwas verwirrend sein. Aber da mag das Gesundheitsministerium noch so sehr auf Präventionskampagnen setzen, damit die Menschen weniger Alkohol trinken – in Zeiten, in denen eine Weinkönigin dem Bundestag vorsteht, ist doch klar, dass den darbenden Winzer:innen geholfen werden muss. Sollte die eine Million Steuereuro nicht reichen, schlagen wir vor, dass ab sofort jede und jeder der 630 Bundestagsabgeordneten jede Woche eine Flasche deutschen Wein kaufen und an Wähler:innen verschenken muss – so dürfte der sonst doch so verlässlich funktionierende, beim Wein aber versagende Markt angekurbelt werden und die deutsche Weinkulturlandschaft ist gerettet.
Scheiß auf Demokratie
Gerettet werden müsste auch der Haustarifvertrag der ZGS, der Zeitungsgruppe Stuttgart, in der Mitarbeiter:innen von „Stuttgarter Zeitung“ und „Stuttgarter Nachrichten“ angestellt und schlechter bezahlt sind als ihre Kolleg:innen mit alten tarifgebundenen Verträgen. Monatelang war über den Vertrag verhandelt worden, im Juli sollte unterschrieben werden. Doch kurz davor kam die Nachricht vom Verkauf an die Neue Pressegesellschaft Ulm, besser bekannt als Südwestpresse (SWP). Und deren Bosse lehnen den Haustarif ab. Daraufhin gingen die Beschäftigten in den Streik, wurden sogar solidarisch von Kolleg:innen vom „Böblinger Boten“ sowie „Eßlinger Zeitung“ und „Cannstatter Zeitung“ unterstützt – obwohl die SWP-Geschäftsführung dafür vorher „arbeitsrechtliche Schritte“ angedroht hatte. Bei der Streikversammlung im Stuttgarter Gewerkschaftshaus befand ein Teilnehmer, dass die neuen Eigentümer offensichtlich auf Demokratie und Mitbestimmung scheißen würden.
Demo gegen Palantir
Auf Demokratie scheißen bekanntlich auch die Tech-Bros in den USA. Peter Thiel gehört dazu („Ich glaube nicht mehr länger, dass Demokratie und Freiheit kompatibel sind.“), und dem zahlt das baden-württembergische Innenministerium nun 25 Millionen Euro für die Überwachungssoftware Gotham der Firma Palantir, an der der libertäre Milliardär beteiligt ist.
Gegen diesen Deal protestierten am vergangenen Samstag um die 400 Menschen auf dem Stuttgarter Schlossplatz, das Bündnis „Kein Palantir in Baden-Württemberg“ hatte zur Demo aufgerufen. „Das, wovor uns Science-Fiction immer gewarnt hat, wird jetzt Wirklichkeit“, sagte Ina Schumann, Stuttgarter Stadträtin von Die Partei, auf der Bühne. Denn Gotham führt riesige Datenmengen aus Datenbanken, sozialen Netzwerken, Standortdaten, IP-Adressen und Kommunikationsdaten zur Mustererkennung zusammen und wertet sie aus – die von Straftätern ebenso wie die von Zeugen und gänzlich Unbeteiligten. Vor allem ist zu befürchten, dass die Software Polizeidaten in die USA abfließen lässt.
Unterschrieben wurde der Fünfjahresvertrag mit Palantir im CDU-geführten Innenministerium – ohne Diskussion im Landtag. Gelesen ist die Messe übrigens noch nicht: Zwar ist der Vertrag unterschrieben, doch um die Software anwenden zu dürfen, braucht es ein neues Polizeigesetz, das die grün-schwarze Landesregierung bis Ende des Jahres durch den Landtag bringen will. Noch kann die Nutzung von Gotham also verhindert werden. Also theoretisch. Wenn die Grünen und/oder die CDU sich bewegen. Lachen Sie nicht.
Ja, wir bei Kontext sind eben unverbesserliche Optimist:innen, und deshalb glauben wir auch weiterhin fest an die Demokratie und deren Vorzüge. Gleich heute Abend werden wir darüber abstimmen, ob wir unsere französischen Weine gegen deutsche tauschen. Denn an uns soll‘s nicht liegen.
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