piwik no script img

„Echtzeitmusik“-KonzertSplittrige Sounds in der bröckelnden Mall

Abstrakte Musik in der leerstehenden Rossmann-Filiale. Das Splitter Orchester erprobt eine neue Art der Zwischennutzung und des Zuhörens.

Die Glühbirnen musizieren mit. Das Splitter Orchester performt in einer leerstehenden Rossmann-Filiale Foto: Splitter Orchester

Donnerstagnachmittag in einer Einkaufspassage, die bessere Zeiten gesehen hat, ein paar Meter vom Gesundbrunnen-Center. Obwohl diese Mini-Mall erst siebzehn Jahre auf dem Buckel hat, stehen die Zeichen auf Niedergang: Zwischen Kaufland und Billigläden reichlich Leerstand – zur Zerstreuung ist hier kaum einer, die Leute wirken gehetzt.

Immerhin: Diese Woche ist etwas anders. Wo einst Rossmann war, kann man reingucken wie in ein Aquarium: auf Leute, die Seltsames tun. Vor allem gibt es Ungewohntes zu hören. Viele bleiben stehen, die meisten nur kurz. Es ist schließlich durchaus gewöhnungsbedürftig, was die Mu­si­ke­r:in­nen des Splitter-Orchesters, die hier seit Tagen werkeln, mit ihren Instrumenten anstellen.

Gerade steht ein letzter Durchlauf an, bevor in 24 Stunden die fünfstündige Performance beginnt. Der Begriff „Probe“ trifft es nicht ganz, denn das aus der „Echtzeitmusik“-Szene entstandene Orchester versteht sich nicht als homogener Klangkörper. Eher besteht es aus spezialisierten Mu­si­ke­r:in­nen und Komponist:innen, die als Kollektiv improvisieren. Im Anschluss besteht dann auch Diskussionsbedarf.

Splitter Orchester

Nächster Live-Termin: Splitter Orchester + Sonoscopia, 11. 10., Kleiner Wasserspeicher

https://splitter.berlin/

Wer hat wen klanglich überrollt? Wann dröhnte es zu sehr, in diesem akustisch doch speziellen Raum mit seinen niedrigen Decken? Einig wird man sich nicht unbedingt, doch bevor die Laune kippt, deeskaliert einer der Musiker: „Hey, es ist doch nur Musik.“

Das Ensemble ist basisdemokratisch organisiert

Das anstehende Konzert ist der zweite von vier Live-Terminen dieses Jahr. Für gewöhnlich spielt das Berliner Orchester selten in seiner Heimatstadt. Zum 15. Geburtstag beschenkt es jedoch die Öffentlichkeit und sich selbst mit einer Reihe, die sie an verschiedenste Ort führt. Patrick Klingenschmitt, der sich als „organisatorischen Arm“ des basisdemokratisch organisierten Ensembles bezeichnet, erzählt, wie es dazu kam:

„In den letzten Jahren kristallisierte sich heraus, wie elementar die Räume sind, in denen wir spielen, für das, was entsteht. So entstand die Idee, zum Jubiläum das Ortsspezifische zum zentralen Thema zu machen. Zudem wollen wir sehen, wie wir zum Austausch kommen können mit Leuten, die sonst nie zu Splitter-Konzerten gehen.“

Zumindest diesbezüglich erweist sich die Einkaufspassage als Punktlandung. Der einstige Drogeriemarkt ist nicht die einzige Ladenfläche, der zwischengenutzt wird. Gleich nebenan ist eine Galerie eingezogen, ebenfalls vermittelt von der darauf spezialisieren Organisation Culterim.

Im Mai war das Orchester zusammen mit der Choreografin und Butoh-Tänzerin Yuko Kaseki in der Zwinglikirche. Diesmal arbeiten sie mit Michael Vorfeld, selbst Echtzeit-Musiker und zudem Spezialist für Lichtinstallation und -performance. Auf dass eine Art Skulptur entsteht, damit nicht nur ein akustischer Eindruck bleibt.

Die Glühbirnen musizieren mit

Die mitmusizierenden Glühbirnen sind clusterartig arrangiert und wirken durch ihr wildes Geblinke tatsächlich wie Lebensadern, die die Or­ches­ter­mu­si­ke­r:in­nen miteinander verbinden. Die sitzen über den ganzen Raum verteilt, als am nächsten Tag der Konzertmarathon beginnt.

Aus den Glühlampen – genauer gesagt: aus der Spannung, die durch solche bis vor zwanzig Jahren handelsüblichen Glühbirnen fließt – generiert Vorfeld Töne. Die sind mal knisterig-nervös, wie man sich den Klang einer Glühlampe eben vorstellt.

Manchmal entlockt er ihnen jedoch auch ganz tiefe Bässe. Oder technoide Rhythmen. Rätsel der Physik. Vorab hatte sich der Lichtkünstler eine 75-minütige Struktur ausgedacht, die in den fünf Stunden viermal durchläuft. „Trotzdem ist jeder Durchgang anders“, erläutert Klingenschmitt. „Die Struktur gibt den Mu­si­ke­r:in­nen Raum zu agieren – nicht nur zu reagieren.“

Unter anderem erklingen Trompete, Geige, Schlagzeug, Bass und Klarinette. Und natürlich elektronische Sounds. Das Gros der Instrumente ist jedoch klassisch und generiert doch Ungewohntes. Von der Strukturierung der Sounds mal ganz abgesehen: Mal scheint die Improvisation fast in sich zusammenzufallen, dann wieder befeuern sich die Stränge gegenseitig.

Je später der Abend desto konzentrierter wird zugehört

Freitagnachmittag besteht gefühlt ein Drittel des Publikums aus Laufkundschaft, beladen mit Einkaufstüten, angelockt von einem Mix aus Belustigung und Neugier. Einige lassen sich ansaugen und bleiben etwas länger.

Die Leute durchmischen sich. Einige liegen auf dem Boden, andere hocken auf Hockern. Manche laufen zwischen den Mu­si­ke­r:in­nen umher. Ein großes Ensemble bietet eben immer auch Schauwerte. Je später der Abend, desto mehr eingefleischte Splitter-Fans – womit auch Verweildauer und Konzentration steigen.

Doch ein bisschen durchgelüftet wurde sie zweifellos: die kleine Nische, in der derart abstrakte Musik gemeinhin stattfindet.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!