Echo-Ortung für Blinde: Klick, hör, sieh
Daniel Kish ist blind. Er erkundet die Welt, indem er mit der Zunge kurze Klicklaute macht und seine Umgebung dank der Echos erfasst – wie eine Fledermaus.
Juli, ein vierjähriges Mädchen, läuft allein über das Gelände einer Sprachschule, Berlin-Prenzlauer Berg. Manchmal bleibt die Kleine stehen, schnalzt mit der Zunge, horcht, geht weiter. In der Hand hält sie den vom Vater gebastelten Blindenstock, verziert mit einer Ente aus Plüsch.
Darüber, wie viele Kinder in Deutschland sehgeschädigt oder blind geboren werden, gibt es keine verlässlichen Zahlen. In der Regel bekommen sie Blindenstöcke erst mit sechs Jahren. Warum? Weil angenommen wird, dass sie, bevor sie in die Schule kommen, nirgends allein hingehen, nirgendwohin ohne Hand, die sie führt. Wie man nur so denken kann, versteht Julis Vater, Steffen Zimmermann, nicht: „Jedes Kind möchte doch rennen.“ Auf seine Initiative geht es zurück, dass demnächst Blindenstöcke für Kinder überhaupt produziert werden.
„Juli, wir sitzen hier auf der Bank“, ruft er seiner Tochter zu. Juli dreht sich zu ihren Eltern und kommt auf sie zu. Die Eltern rücken zusammen, sie setzt sich. „Ich möchte, dass mein Stock auch Platz hat“, sagt Juli. Es dauert ein wenig, Juli sucht nach der richtigen Position für ihn, dann ist sie zufrieden und kuschelt sich an ihre Mutter.
Wie erzieht man ein blindes Kind?
Ein Satz, sachlich, unaufgeregt, veränderte das Leben von Ellen Schweizer und Steffen Zimmermann: „Ihr Kind hat Lebersche Kongenitale Amaurose“, sagte der Arzt, bevor er sich entschuldigte, er habe keine Zeit. Es war ein Satz, mit dem man die beiden allein ließ: Ihre elfmonatige Tochter Juli ist blind. Sie hatten keine Vorstellung, wie man ein Kind erzieht, erst recht keine, wie man ein blindes Kind erzieht. „Wir haben uns damals lange an den Gedanken geklammert, dass doch irgendein Sehrest da ist“, sagt Zimmermann. Unnötig, wie er heute findet.
„Der Anfang war schwierig“, erzählt Ellen Schweizer, ruhig, verständlich. Sie wünscht sich mehr Seelsorge für Eltern, die erfahren, dass ihr Kind blind ist. Nach der Diagnose surften beide durch das Internet, schauten sich YouTube-Videos an, suchten Information, suchten Hilfe. Dabei stießen sie immer wieder auf einen Namen: Daniel Kish. Blind reist er durch Indien, geht in den Schweizer Alpen wandern. Er fährt Fahrrad – ganz allein.
Weshalb er das kann? Er orientiert sich mittels Klicksonar, einer Form der aktiven Echo-Ortung, die er sich als Autodidakt aneignete: Er macht kurze Klicklaute mit der Zunge und erfasst seine Umgebung durch die Echos, die zu ihm zurückgetragen werden – hörend sieht er. Wie Fledermäuse, wie Delfine.
Unabhängigkeit
Das ist es, dachten sich Schweizer und Zimmermann, was sie ihrem Kind wünschen: Selbstständigkeit, Selbstbestimmtheit, Unabhängigkeit.
In Deutschland suchten sie vergebens nach Trainern, die diese Technik vermitteln. Im Herbst 2011 gründeten die Eltern deshalb den Verein Anderes Sehen e. V, „aus reiner Notwendigkeit“, wie Schweizer sagt. Der Verein soll die Frühförderung blinder Kinder in Deutschland vorantreiben. Sie sollen autonom sein. Mobil sein. Und beides zusammen. Ihre Projekte: Produzenten für Kinderlangstöcke finden, neue wissenschaftliche Studien zur Verfügung stellen, taktil illustrierte Kinderbücher in Auftrag geben. Frühförderung eben. Doch ihr größtes Ziel: Klicksonar in Deutschland bekannt machen.
Der Verein: Der 2011 gegründete Verein Anderes Sehen setzt sich dafür ein, dass Klick-Sonar als Wahrnehmungstechnik für Blinde in Deutschland anerkannt wird und Verbreitung findet. Rund 300 Menschen wurden bisher in dieser Technik unterrichtet. Frühförderer, Eltern, Mobilitätstrainer und Blinde ab einem Jahr. Auch in Österreich wird Klick-Sonar jetzt auf breiter Basis eingeführt. Dort werden inzwischen für jedes Bundesland Trainer ausgebildet.
Schweizer und Zimmermann laden Daniel Kish nach Berlin ein. Er bringt Juli die Technik bei – mit Erfolg. Juli fährt heute allein Laufrad über grobes Kopfsteinpflaster. Wenn Ellen Schweizer von „Sehen mit den Ohren“ spricht oder sagt, dass durch das Zungenklicken im Gehirn ein „Bild“ erzeugt werde, dann setzt sie die Wörter mit ihren Fingern in Anführungsstriche. Denn wie genau das Bild aussieht, das weiß sie nicht.
Daniel Kish steht im Seminarraum der Sprachschule in Prenzlauer Berg. Er hat klare Augen, der Farbton, schwer zu sagen. Grün, grau, blau. Die fünfundzwanzig Menschen, die vor dem Amerikaner versammelt sind, sieht er nicht. Kish steht kerzengerade, dem Publikum zugewandt. Größtenteils sitzen sehende Eltern von blinden Kindern vor ihm, zwei Babys sind mit im Raum und einige Erzieher, die sich fortbilden möchten. Viele sind extra angereist. „Diese Augen, die Sie sehen, sind aus Glas“, sagt Daniel Kish, „ich sehe absolut nichts.“ Kish dreht sich, läuft ein paar Schritte zur Seite, beugt sich und hebt ein Tablett hoch, das an der Wand lehnte.
Sich verändernde Töne
Er bittet die sehenden Anwesenden, ihre Augen zu schließen, es wird leise im Raum. Er spitzt die Lippen und macht Schschschhhhhh, dabei zieht er das Tablett langsam an seinem Gesicht vorbei. Der Ton verändert sich. Mit dieser einfachen Übung zeigt er, wie man prüfen kann, ob ein Objekt vor einem ist oder nicht. „Wie klingt das?“, fragt Kish. Die Sehenden stolpern über ihre Sprache, suchen nach Wörtern. Denn: Wie beschreibt man ein Geräusch? Wie verändert sich das „Schschschsch“, wenn man ein Tablett vor das Gesicht hält? Wie klingt ein Baum, ein Pfahl, eine Treppe?
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„Jedes Ding hat einen Klang“, erklärt Kish, „und jedem Klang wird eine Bedeutung gegeben.“ Die sehende Gesellschaft habe eine ausgefeilte Sprache entwickelt, um visuelle Dinge zu beschreiben. Für Blinde sei es jedoch wichtig, eine Sprache zu entwickeln, die das beschreiben kann, was man hört.
Wahrnehmung und Identifikation
Im ersten Schritt geht es bei Klicksonar um die Wahrnehmung von Objekten, im zweiten erst um die Identifikation. Kish klingt wie ein Prediger, wenn er spricht.
„Ich habe noch nie einen Ausgang allein gefunden“, sagt die elfjährige Melina. Bislang wurde sie immer geführt. Kish reagiert sofort: „Das üben wir jetzt.“ Sie gehen nach draußen auf das Gelände, auf dem mehrere Gebäude stehen, das Gelände, das Melina noch nie betreten hat. Beide haben ihren Stock in der Hand. Kish stellt sich neben sie, so als würde er sehen, wo sie steht. „Klick mal und hör genau hin“, sagt er ihr. Sie schnalzt mit der Zunge, am hinteren Gaumen, klar und laut. Sie dreht ihren Kopf nach links, klick, sie dreht ihren Kopf nach rechts, klick.
„Links von mir ist vermutlich eine Wand“, sagt sie, „rechts von mir scheint alles frei zu sein.“ – „Korrekt.“ Melina schnalzt weiter und geht die Wand entlang, sie versucht dabei immer den gleichen Abstand zu halten. Sie korrigiert sich selbst, wenn sie zu nahe an die Wand kommt. „Mache ich das gut?“, fragt sie und zappelt ganz aufgeregt. „Oh ja“, raunt es unter denen, die beobachten. Die, die nichts sagen, schütteln ungläubig den Kopf.
„Hm, die Sonne“
Melina läuft weiter, sie tritt aus dem Schatten, sie spürt die plötzliche Wärme im Gesicht. „Hm, die Sonne“, sagt sie und bleibt einen Moment stehen. Wieder zappelt sie unruhig. Viele blinde Kinder entwickeln Ticks, weil sie ihrem Bewegungsdrang nicht nachgeben können. Melina geht weiter, Melina hört die Ecke, sie findet die Tür und freut sich. „Ich hoffe, dass sich meine Zunge durch die vielen Klicks nicht abnutzt“, sagt sie und lacht.
Daniel Kish erkrankte im Säuglingsalter an einer Form von Krebs, beide Augen wurden ihm entfernt, als er dreizehn Monate alt war. „Ich habe keine visuelle Erinnerung“, sagt er. Zu einer Zeit, in der Mobilitätstraining für Blinde nicht Standard war, ermutigte ihn seine Familie, selbstständig zu sein. Er kletterte auf Bäume, er ging allein zur Schule, er studierte.
Der Fledermausmann
Der Entwicklungspsychologe wurde der erste blinde zertifizierte Mobilitätstrainer und gründete die Organisation World Access for the Blind. Seither reist er durch die Welt, hält Vorträge, unterrichtet blinde Kinder – wie Juli oder Melina. Daniel Kish ist eine Koryphäe auf seinem Gebiet. Man nennt ihn: Fledermausmann.
Dabei hat der heute 46-Jährige Klicksonar nicht erfunden, sondern eher systematisiert, fortentwickelt. Viele Blinde nutzen Echos, um sich zu orientieren, durch Klacklaute ihrer Absätze oder durch Fingerschnipsen. Dennoch unterscheidet sich Klicksonar von diesen Formen der Echo-Ortung: Der Abstand von Zunge und Ohr ist immer gleich, die eigene Tonhöhe, die Lautstärke kann selbst bestimmt werden.
Gewohnt, dass man die Welt zu ihnen bringt
„Blindheit sollte von Blinden wie auch Sehenden nur als eine Unbequemlichkeit verstanden werden“, sagt Kish. Große Wörter benutzt er auch, wenn er seinen Vortrag hält: Freiheit, Unabhängigkeit. Blinde Kinder würden oft ihre Hände nah am Körper halten, wenn man ihnen ein Glas reicht, anstatt sie auszustrecken. Sie seien es gewohnt, dass man die Welt zu ihnen bringt, sagt er, aber Kinder sollten die Welt erkunden, sollten frei sein.
Mit einfachen Übungen zeigt er, wie Klicksonar funktioniert: wie man Entfernungen hört, wie man Größe und Dimensionen wahrnehmen kann, wie man Oberflächen unterscheidet. Fortgeschrittene Anwender können Baumarten aufgrund ihrer Oberflächenstruktur identifizieren, ihren Computer „erklicken“, ihre Kaffeetasse. Bis zu 200 Meter reicht die Technik.
„Ecken sind sehr einfach zu hören und wichtig, weil Nützliches meist in der Nähe ist“, sagt Kish. Türen, Ausgänge, Eingänge. „Es sind magische Momente für Blinde, die eigene Freiheit zu entdecken“, sagt Kish. Autonom zu sein. Klick. Die Umgebung wird für einen Moment festgehalten. „Es ist so, als ob man Gips in eine Form gießt.“ Klick. Eine raue Häuserfassade. Klick. „Die Welt ist für mich wie ein Orchester.“
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