EU: "Die EU wird von Kurfürsten regiert"
Der EU-Gipfel hat gezeigt, dass die nationalen Regierungen wieder den Ton angeben. Das ist ein Rückschritt. Die Briten sollten sich entscheiden, ob sie die EU wollen - oder austreten, so der Europaabgeordnete Johannes Voggenhuber
taz: Herr Voggenhuber, der neue EU-Reformvertrag ist weitgehend ohne Beteiligung der Öffentlichkeit und der Parlamente verhandelt worden. War das der richtige Weg?
Johannes Voggenhuber: Nein. Amsterdam und Nizza haben gezeigt, dass die Methode der Regierungskonferenzen hinter verschlossenen Türen untauglich ist. Ich habe nicht geglaubt, dass Europa das Bedürfnis hat, so etwas noch einmal zu erleben. Doch niemand ist den Regierungen in den Arm gefallen. Auch die Parlamente waren zu schwach, einen neuen Konvent oder ein Mitspracherecht durchzusetzen.
Der Konvent hat eineinhalb Jahre lang über eine künftige Verfassung verhandelt. Er ist immer wieder für die Beteiligung nationaler und europäischer Parlamentarier und die Einbeziehung der Zivilgesellschaft gelobt worden. Hat die Methode trotzdem versagt?
Ohne den Konvent hätten wir weder einen Verfassungsentwurf noch diesen Vertrag. Der Konvent versuchte sich an einer europäischen Demokratie, versuchte die EU umzuwandeln in eine Union der Bürgerinnen und Bürger und nicht nur der Staaten. Europa sollte eine öffentliche Angelegenheit sein, kein Kurfürsteneuropa, das hinter verschlossenen Türen verhandelt.
Aber Niederländer und Franzosen haben gegen den Verfassungsentwurf des Konvents gestimmt. Was ist schiefgelaufen?
Die Abänderungen der Regierungen haben nichts mit den Forderungen der Bürgerinnen und Bürger in Frankreich und den Niederlanden oder sonst irgendwo zu tun. Nach allem, was ich quer durch Europa gehört habe, hat niemand verlangt, Fahne und Hymne zu beseitigen. Niemand hat verlangt, den Außenminister zu schwächen. Schon gar niemand - nirgendwo in Europa - hat verlangt, die Grundrechtecharta zu schwächen oder gar Ausnahmen davon zu gewähren. Das sind die Forderungen und Machtansprüche, die die Regierungen unermüdlich wie eine tibetanische Gebetsmühle im Konvent vorgetragen haben. Das, was wir nun erleben, ist der Missbrauch der Verfassungskrise durch die Regierungen, die so ihre Machtansprüche noch einmal durchsetzen wollen.
Alle haben sich auf den Willen der Bürger berufen. Sind die Bürger verschaukelt worden?
Natürlich. Die Forderungen waren klar, so verschieden die Kampagnen in den Niederlanden und Frankreich gewesen sein mögen: Europa sollte demokratischer werden und endlich eine Antwort auf die Globalisierung geben. Wenigstens Ecksteine einer künftigen Sozialunion und mehr soziale Verantwortung sollte es geben. Bei den Regierungen konnte davon keine Rede sein. Das ist ein Betrug an den Bürgern. So kann man die Vertrauenskrise nicht lösen.
Außer in Dänemark und Irland, wo die Referenden Pflicht sind, wird es wahrscheinlich keine geben. Steht es also schlecht um den Willen der Bürger?
Nein, es steht schlecht um die Regierungen, die den Willen der Bevölkerung umgehen. Man darf einfach nicht vergessen, dass die Errichtung einer supranationalen Demokratie einen Preis hat: den Machtverzicht der Regierungen. Immerhin eröffnet das Bürgerbegehren neue Horizonte: Die Zivilgesellschaft kennt keine nationalen Grenzen mehr. Wenn es jetzt Elemente gibt, den Bürgerwillen europaweit zu formulieren, ist dies ein Fortschritt.
Gibt es wirklich einen gemeinsamen Willen in Europa?
Es gibt längst eine europäische Bürgerschaft. Von Helsinki bis Lissabon sind die Erwartungen, die ich zu hören bekomme, immer wieder die gleichen.
Auch in Großbritannien?
Dies ist ein Sonderfall. Charles de Gaulle hatte wohl nicht ganz unrecht, als er mutmaßte, Großbritannien würde Europa nur beitreten, um es zu verhindern. Dort herrscht eine völlig andere Rechts-, Werte- und Wirtschaftskultur. Die Briten leben immer noch mit dem Trauma, kein Empire mehr zu sein. Ich halte die Ausnahme von der Grundrechtecharta für den historischen Skandal dieses Gipfels. Es heißt, die Axt anzulegen an die Wurzeln des Projekts Europa.
Was muss die Konsequenz sein?
Wir sollten die Briten auffordern, nach ihrer eigenen Devise "If you cant beat it, join it or leave it", die Entscheidung zu treffen, diesem Europa anzugehören oder - weil sie Europa nicht schlagen können - zu gehen und gute Nachbarn zu sein.
Die britische Regierung fordert ein Referendum. Wäre das ein guter Weg, endlich die britische Bevölkerung entscheiden zu lassen, ob sie zu Europa gehören will?
Die Vergangenheit hat gezeigt: Wenn man die Briten wirklich vor diese historische Entscheidung stellt, Außenseiter zu sein vor den Küsten Europas oder Teil Europas, dann würden sie zu unser aller Überraschung ja zu Europa sagen.
INTERVIEW: NICOLE MESSMER
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