EU: "Europäisches Sozialmodell ist zentral"

Bei den Verhandlungen zum EU-Vertrag ist Angela Merkel vor den Briten und den Polen in die Knie gegangen, meint der frühere Präsident Portugals MÁRIO SOARES

Soares: Das Europa, das wir jetzt haben, weiß nicht, was es ist und was es will. Bild: dpa

taz: Herr Soares, Portugal hat die EU-Ratspräsidentschaft übernommen und so das Mandat, den EU-Vertrag zum Abschluss zu bringen. Ist Portugal dieser Aufgabe gewachsen?

Mário Soares: Ich fürchte nein. Angela Merkel hätte die Vertragsverhandlungen zu Ende führen sollen. Deutschland als größtes EU-Mitgliedsland hat den Ball an ein kleines und relativ schwaches Land abgegeben, statt ihn selbst ins Tor zu befördern.

Woran hat es gelegen?

Nach meiner Meinung ist Frau Merkel vor den Briten und den Polen in die Knie gegangen. Die Verfassung war von 18 Staaten bereits ratifiziert worden, zwei weitere, Portugal und Irland, standen kurz davor, ihn zu ratifizieren. Und dann schaffen es zwei Staaten, den gesamten Prozess nicht nur zu blockieren, sondern weit zurückzuwerfen. Alles, was den Anschein eines föderalen Europa hatte, das in der Lage wäre, in der Weltpolitik eine wichtige Rolle zu spielen, wurde gestrichen. Das Europa, das wir jetzt haben, weiß nicht, was es ist und was es will.

Der EU-Vertrag ist doch immerhin ein wichtiger Schritt, auch wenn keiner mehr von einer Verfassung spricht.

Es gibt ja noch gar keinen Vertrag. Es gibt ein Mandat für einen Vertrag, der keinen der bestehenden Verträge ersetzt - ein vollkommenes Durcheinander. Und das nur, weil Großbritannien kein wirklich föderales Europa will. Es möchte eine europäische Freihandelszone, weiter nichts. Wenn Großbritannien aber keine Verfassung, keine politische Union und kein föderales Europa will, sollten sich die anderen Länder nicht von London daran hindern lassen. Ich finde das Verhalten der Briten inakzeptabel

und das von Polen?

Die Polen haben eine reine Protesthaltung eingenommen. Merkel hat ihnen deshalb vorgeschlagen, aus den Vertragsverhandlungen auszusteigen. Gegenüber den Briten hatte sie leider nicht diesen Mut.

Der portugiesische Premier José Socrates hat den erfolgreichen Abschluss der Vertragsverhandlungen zum Prüfstein seiner Ratspräsidentschaft erklärt. Wenn der Vertrag auf den letzten Metern scheitert

gibt es kein Europa mehr.

Die Bürger fordern mehr Transparenz und Demokratie, wollen aber auch keine supranationale EU, weil sie fürchten, ihre Identität zu verlieren. Ein unlösbares Dilemma?

Wenn man den Bürgern nicht verständlich macht, dass die EU eine politische Union ist und kein Superstaat, dann ist es doch klar, dass keiner ein solches Europa haben will. Man sollte es eher von der anderen Seite sehen. Wenn Deutschland, dass in Europa eine bedeutende Rolle spielt, allein wäre, ohne die EU, hätte es in der Welt kein Gewicht. Nur wenn Europa es schafft, mit seinen 500 Millionen Bürgern, seiner wirtschaftlichen Stärke, seinem technologischen Vorsprung, in der Welt als Union aufzutreten, kann es als Protagonist mitspielen. Andernfalls werden die Länder Europas an Bedeutung verlieren.

Bisher hat es Europa aber nicht geschafft, in der Außenpolitik halbwegs geschlossen aufzutreten.

Richtig, aber wenn uns das nicht gelingt, ist der Niedergang Europas besiegelt. Im Moment sehe ich keinen europäischen Politiker, der es wagt, das auszusprechen. Der Gazprom-Coup von Kanzler Gerhard Schröder etwa hat jegliches Gespür für eine EU-Politik, die diesen Namen verdient, vermissen lassen. Ein Willy Brandt oder Helmut Schmidt hätten nie so gehandelt. Aber oft siegt der nationale Egoismus über den Gemeinsinn, ohne den Europa nicht funktioniert.

Sie haben das europäische Sozialmodell immer wieder als Kern dieser Gemeinschaft dargestellt. Was ist davon übrig?

Als Sozialist bin ich davon überzeugt, dass das europäische Sozialmodell ein wesentlicher Teil unserer europäischen Identität ist. Es war der Sieg Europas über sich selbst, über seine Vergangenheit nach dem Zweiten Weltkrieg. Wir sollten dieses Modell durch nichts in Frage stellen.

Ein Relikt der letzten portugiesischen EU-Ratspräsidentschaft ist die Lissabon-Strategie, die zum Ziel hatte, Europa in der Welt wettbewerbsfähig zu machen, ohne das Sozialmodell anzutasten. Was ist davon geblieben?

Die Lissabon-Strategie ist noch immer aktuell. Auf Initiative des damaligen EU-Ratspräsidenten António Guterres war sie ja langfristig angelegt. Ich verstehe allerdings bis heute nicht, warum sie nur von zwei Staaten - Finnland und Österreich - umgesetzt wurde. Beide Länder sind damit sehr erfolgreich. Sie sind außerordentlich wettbewerbsfähig und verfügen dennoch über ein hohes Maß sozialer Absicherung. Vielleicht ist die portugiesische Ratspräsidentschaft nun eine gute Gelegenheit, die anderen EU-Staaten dazu zu bewegen, diese Strategie endlich umzusetzen. Nicht einmal in Portugal selbst ist das bisher geschehen.

INTERVIEW: DANIEL SCHMIDT

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