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ESSAYFlucht aus der Wirklichkeit?

■ Spontane Überlegungen zu Micha Brumliks Trauertrommel

Ein Trauerzug also soll das Begräbnis begleiten. Traurig trommeln sollen die deutschen Intellektuellen, wenn das „universalistische Unterpfand der alten Bundesrepublik“, der Artikel 16 des Grundgesetzes, „durch Ergänzung abgeschafft“ wird. Vor die Halle des SPD-Sonderparteitages möchte Micha Brumlik all jene laden, die seinerzeit in Bonn im Hofgarten gegen die Nachrüstung demonstriert hatten.

Trauer gewiß. Niemals vor diesem Artikel 16 ist die Gewißheit der Aufklärung, daß die Menschen- und Bürgerrechte universell gelten, als ein einklagbares Recht in die Verfassung eines einzelnen Staates aufgenommen worden: Jeder Mensch dieser Welt hat das Recht, in Deutschland Asyl zu beantragen, und er hat den Anspruch auf rechtsstaatliche Nachprüfung seines Begehrens. So steht es nicht in der amerikanischen „Bill of Rights“, so steht es (meines Wissens) nirgends. Die Begründungsurkunde für diesen Schritt der Verfassungsmacher von 1949 trägt nicht allein den Auschwitzstempel. Sie trägt auch die Signaturen der großen Anwälte des Weltbürgertums der europäischen Geistesgeschichte: Goethe, Montesquieu, Lessing, Voltaire. Aber ohne Hitler, ohne Auschwitz, ohne die Vertreibung von Einstein und Feuchtwanger hätte es den Artikel 16 in dieser Form nicht gegeben.

Trauer also, wenn es zum Abschied käme. Und sehr ernsthafte Diskussion darüber, ob er unaufschiebbar und unvermeidbar ist. Aber Abschied der Intellektuellen von der Politik? Adieu, und das war's? Da viele in meiner Partei sich mit ähnlichen Abschiedsgedanken in die Diskussion um die beiden Brennpunkte — den Einsatz der Bundeswehr und das Asylrecht — eingebracht haben, hierzu einige Überlegungen.

In einem tieferen Sinne gehören beide humanistischen Grundpositionen zusammen, sie sind beide von der Erinnerung an den Naziterror in Deutschland und in ganz Europa bestimmt. Deutsche Soldaten hatten Europa erobert und den Weg geebnet für ein Ausmaß an Staatsterror, das den Terror im eigenen Land an Grausamkeit und Vernichtungswillen noch weit übertraf, zumal der Terror im eigenen Land jahrelang von der Mehrheit nicht nur getragen, sondern schändlich bejubelt worden war.

Diese zwei Brennpunkte der humanistischen Universalität bedeuteten also: Alle, die in der weiten Welt verfolgt sind, müssen bei uns Zuflucht finden, und deutsche Soldaten können eingesetzt werden nur zur Verteidigung des Nationalstaats Deutschland. Schon die Ausweitung auf Bündniseinsätze hatte — Gott sei Dank — tiefe Diskussionen ausgelöst.

Der Artikel 16 GG nimmt die Universalität und die Idee der Weltgeltung gleicher Prinzipien auf: er macht den Nationalstaat Deutschland zum Ankerplatz der Universalität der Aufklärung, der Artikel 87a GG verbietet dem Nationalstaat um des universalen Zieles „Frieden“ Willen den Einsatz außerhalb seiner oder seiner Bündnispartner Grenzen.

Wer das geschichtliche Drama dieser beiden Verfassungsparagraphen für das Schicksal der Deutschen in diesem Jahrhundert nicht sieht, hat in der Debatte nichts verloren.

Die Wirklichkeit hat den Universalitätsanspruch eingeholt: Die sturmbefreite Nische, in die die alte Bundesrepublik in Wahrheit sehr friedlich und wohlgeraten gebettet war, gibt es nicht mehr. Vierzig Jahre haben wir in stabilen Verhältnissen gelebt. Ein für alle Mal. Hinter uns die Sintflut des Faschismus, neben uns, wie wir dachten — auch ein für alle Mal: die Mauer gegen den Kommunismus. Diese Bipolarität hat unser Denken und Handeln wahrscheinlich stärker geprägt als das unserer französischen und britischen Kollegen. Die Grundmuster, die unseren intellektuellen Streit prägten, unser öffentliches Leben, das Gesetz, nach dem wir angetreten sind, war von einem mehr oder weniger gesicherten Weltrahmen bestimmt. Die Goldrahmenbedingungen der Welt, aus der wir kommen, gibt es nicht mehr. Wir alle wachen nur langsam aus der wunderbaren, fast paradiesischen Erstarrung auf, in der wir Bürger einer reichen Gesellschaft gelebt hatten; Bürger einer heilen Binnenwelt, suchten wir nach Konzepten und Regeln für die noch unheiligen Bezirke der Restwelt: Entwicklungsstrategien sollten die Armut bekämpfen, Menschenrechtsstrategien die Bürgerrechte einführen, Brandschutz allüberall sollte Brände verhindern. Wir dachten und konzeptionierten von gesichertem Boden aus.

In dieses Konzept gehörte die Aufnahme der Menschen, die vor dem Zugriff des diktatorischen starken Staates fliehen. Wir verglichen die Diktaturen mit derjenigen Hitlers, um deutlich zu machen, warum sie bei uns Zuflucht finden müssen. Solche starken Staaten gibt es kaum noch in der Welt. Wir leben in der Epoche der extrem schwachen Staaten, des Zerfalls großer Staaten. Die Vertreibungen, die Elendswanderung von Millionen in der Welt, hat weit eher mit der Schwäche als mit der Stärke von Staaten zu tun. Der Zerfall der Staatenwelt, die schwindende Legitimationsbasis auch der großen Demokratien sind die Kennzeichen der Epoche seit dem Ende der Sowjetunion. Schleichende Entstaatlichung bei zunehmender Gewalt aller möglichen Täter, keineswegs nur staatlicher.

Es ist keine Schande, auf eine solche Welt — nach vierzig Jahren Politik der kleinsten Schritte — schlecht vorbereitet zu sein. Es wäre aber romantische Verantwortungslosigkeit, wenn wir uns weigerten, die Denkmuster und Verhaltensweisen der Vergangenheit zu überprüfen. Damals, in der Vor-Gorbatschow-Zeit hatten wir es mit einer konzeptionsfähigen Wirklichkeit zu tun. Der Helsinki-Prozeß war ein der Zeit angemessenes Konzept. Es war ein Friedenskonzept. Der Hurrikan des Wandels, dem die Menschen seither ausgesetzt sind, reagiert kaum noch auf Konzepte.

Wenn jetzt die deutschen Intellektuellen zum Trauermarsch des Abschieds trommeln, und mit ihnen nicht wenige in der SPD, weil die Wirklichkeit zwei Stützpfeiler der alten Bundesrepublik bis in den Grund losgespült hat, dann ist das Flucht.

Die Diskussion um UNO-Hilfe der Bundeswehr in den Schlachtgebieten des Elends tut so, als lauere die deutsche Politik nach uralter Sitte auf das Festbeißen in anderen Weltgegenden: Die Streitmuster der Geschichte holen uns ein. Die Diskussion um die präzisere Definition des Asylgrundes wird unter dem Druck der Feuertotschläger geführt, als habe sich in der Wirklichkeit nichts geändert.

Cohn-Bendit, der lange für eine Präzisierung des Asylrechts eingetreten war, hat unter dem Rostocker Feuerschein eine Denkpause vorgeschlagen. Sehr einverstanden. Aber der grundsätzliche Abschied der Intellektuellen von der öffentlichen Verantwortung — das wäre in der Tat eine unerträgliche Selbstromantisierung derer, die ein gutes Leben im Goldrahmen des Ost-West-Konflikts hatten, und nun, wo nichts mehr so ist, wie es einmal war, die Flucht in die Trauer verordnen. Die Flucht in die Trauer im Taumel dieser Zeitwende? Das wäre ein anderer, ein neuer „trahison des clercs“*. Freimut Duve

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