: EROSION STATT EROS
■ Das Altern von Herbert Marcuse im Literaturhaus
Der Höhepunkt liegt nun 20 Jahre zurück, und weil am 19. Juli Marcuse den 90. Geburtstag hätte feiern können, hatte das Literaturhaus die Marcuse-Forscherin und Herausgeberin Barbara Brick aus Frankfurt eingeladen, an den Philosophen zu erinnern durch einen Vortrag am Freitag und ein rechtschaffen akademisch „Kolloquium“ genanntes Plaudern über Texte von ihm am Samstag. Neuigkeiten sind das Schmieröl des Kultur- und Erinnerungsbetriebes, und weil kritische Theorien der Gesellschaft derzeit genauso aus der Mode gekommen sind wie ihre Denkfiguren, die auf die konterrevolutionären Vorzeichen der Verdrängungsprozesse verweisen, mußte mit einigen unbekannten Archivalien aus Frankfurt die Neugier auf den Ästhetiker Marcuse ein wenig aufgepäppelt werden. Daß solche Neuigkeiten dann oft und so auch in diesem Fall keine bieten, höchstens den Anlaß, die Gedächtnisverluste früherer Lektüren durch schnelles Rückschweifen in die ewigen Jagdgründe der Theorie auszugleichen, ist nicht neu.
Der Vorwand: das waren zwei Briefe zum Surrealismus, die Marcuse 1972 an eine Gruppe Chicagoer Surrealisten amerikanische Fortschreiber der ecriture automatique mit Direktanschluß zum Unbewußten, der in Europa schon seit fast 40 Jahren mit der politischen Auflösung der Surrealisten abgeschnitten worden war - geschickt hatte, eine Kritik der surrealistischen Inspirationstechnik und Formen umfassend. Daß die Ästhetik bei Marcuse ganz anders als beim Co -Frankfurter Adorno vor allem einen Baustein seiner Gesellschaftstheorie bietet - bei Adorno ist's eher umgekehrt - und ästhetische Diskurse nur sehr nebenbei durchgeführt werden, war auch schon vor diesen Briefen bekannt und nachzulesen etwa im Kunstkapitel von „Konterrevolution und Revolte“ oder der letzten Schrift „Zur Permanenz der Kunst“. Kunst war für Marcuse nun einmal der prädestinierte Ort der Utopie, wo die jenseits des Realitätsprinzips instrumenteller Vernunft treibenden Phantasiepotentiale eine autonome Welt voller „tabuisierter Urbilder der Freiheit“ auffüllen, eine Sphäre von Gegenbildern, die es eigentlich erst begründet, Vorstellungen von realisierter Freiheit und einer anderen Gesellschaft als der total verkehrten zu haben. Dem fügten auch die beiden Briefe nichts hinzu, einmal abgesehen davon, wie Marcuse den Rückgriff auf konventionelle Romanformen etwa wie bei Aragon, nachdem die Politisierung das Formlaboratorium in die Luft gejagt hatte, gegen die früheren Experimente in den surrealistischen Künsten verteidigte.
Wenn die Ästhetik bei Marcuse schon mitten in die Gesellschaftstheorie führt, ware konsequenter gewesen, die Gegenwehr dieser Veranstaltung gegen Marcuses Verschwinden aus den Köpfen zu nutzen, seinen Gründen nachzusinnen: warum verliert eigentlich eine Theorie ihre Wirkung, die zugleich die totale Gewalt gesellschaftlicher Zwänge sich in den Triebstrukturen durchsetzen sieht, aber die Möglichkeit der Befreiung durchs Lustprinzip derselben Triebstrukturen aufrechterhält, das faktisch längst durch Fortschritte der „Produktivkräfte“ Freiheitsspielräume erhalten habe, die nur noch nicht freigegeben würden. Das Altern von Marcuses Theorien liegt nicht nur an den Gesetzen des Dschungels folgenden Denkmoden oder der neuen Spießbürgerlichkeit der Köpfe, die sich lieber in den Konkurrenzkampf um Karriere und Kapital treiben lassen, als sich den Triebkräften der Revolte zu überlassen. Dieses Altern ist auch dadurch bedingt, daß Marcuse eine Reihe radikaler Fragen gestellt hat, für die es notorisch nur eine Antwort gibt: Revolte und Revolution. Ihr Amüsierwert ist derzeit aber nur gering, folglich weicht auch eine Wiedererinnerungsveranstaltung lieber in unspektakuläre Neuigkeiten vom Ästhetiker Marcuse aus als sein Porträt zu zeichnen, das die gegenwärtigen Denkverbote mitzeigt. Der Eros der Revolte ist verschwunden, ihre Philosophie muß erodieren. Auch im Seminarraum des Literaturhauses rauchten mehr die Zigaretten als die Köpfe, Schonzeit für eine älter als nötig gemachte Kultfigur gibt es nicht: sie wird alle zehn Jahre um ein betuliches Jubiläumsjahrzehnt älter.
Uwe Pralle
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