EMtaz: Ein Abend in Paris: Fußball, Küsse und Nuit débout
Die Place de la République ist Spielplatz verschiedenster Welten. Die EM ist wichtig. Aber wichtiger sind Proteste und Gedenken an Anschlagsopfer.
An diesem Donnerstagabend des Brexitvotums stellt sich die République wie ein Brennglas von Paris dar. Jener Platz wird bespielt von höchst unterschiedlichen Welten einer Stadt, die gerade viel mit sich selbst, ihrer Sperrigkeit und ihrer Leidensfähigkeit zu tun hat.
Es wird auf der République rasant zwischen Passanten und unorthodox Fußball gespielt, es wird auch mal kurz geprügelt, man tanzt Swing zum Ghettoblaster und raucht Riesenjoints, es gibt Gratismahlzeiten für Bedürftige, es wird sich hemmungslos geküsst und an der Statue der Marianne wird der Toten von Charlie Hebdo und des 13. Novembers gedacht. Lou hat ihre Tochter beim Anschlag auf das Bataclan verloren – „ich komme jeden Tag und schmelze die vielen Kerzenreste hier zu einer Flamme zusammen. Mein Kind soll weiter leuchten. Paris auch.“
Ein fotokopierter Zettel an einem Baum heißt auf deutsch die EM-Fans willkommen, „wir wollen ihnen nicht den Spaß verderben“, steht dort, „aber wir freuen uns, wenn sie sich für die schwierige Situation französischer Arbeitnehmer interessieren.“ Daneben prangt das Logo der CGT, der landesweit größten Gewerkschaft. Unweit davon hat Nuit debout, die soziale Bewegung, die ihren Ursprung im Protest gegen das neue Arbeitsrecht hatte, eine blauschwarzrote Fahne gehisst.
Die Gesellschaft kapern
In ihrer gewollten Zerrissenheit erinnert letztere an eine Piratenflagge. „Ja, das trifft es“, sagt Claire, die im Naturschutz arbeitet und Ende 20 ist, „wir wollen die Gesellschaft kapern, sie wach machen.“ Momentan sei Nuit debout aber an einem kritischen Punkt angelangt – „wir diskutieren fast täglich seit dem 31. März auf der République, aber jetzt geht den Menschen die Puste aus.“
90 Arbeitsgruppen haben sich im Rahmen von Nuit debout gebildet, zu Themen wie Ökologie und Stadtentwicklung, Mitbestimmung oder Frauenrechte konferiert man auf dem Asphalt sitzend. Wer lieber steht, darf das auch: „schließlich heißt debout ja aufrecht“, meint Robert und lacht.
Der Grundschullehrer attestiert der Bewegung, so wie sie jetzt „basisdemokratisch, ja anarchisch funktioniert, ein relativ schnelles Verfallsdatum“ – auch wenn er selbst in ihr aktiv ist. „Wir müssen uns jetzt eine Form geben, die Nuit debout schlagkräftig macht. Die ultrakapitalistische Gegenseite ist bestens organisiert. Darauf müssen wir in organisierten Attacken antworten – verbal und im Besetzen symbolischer Orte wie Banken oder Fabriken.“
Doch im Gegensatz zu Spanien sei es im partei- und gewerkschaftspolitisch genau verteilten Frankreich extrem schwer eine neue, durchsetzungsfähige Bewegung zu etablieren. Sabine, die sich gerade bei „Falafel debout“, einem von Exilpalästinensern geführten Stand, ein Sandwich gekauft hat, nickt. Und dann, als wir gerade mit der Krankenschwester ins Gespräch kommen wollen, flitzt sie weg.
Gegen Demo-Verbot
Am Metroeingang geht ein junger Mann zu Boden, umzingelt von der CRS, dem Spezialkommando der Polizei. Sabine will ihm zu Hilfe kommen, die Polizisten drängen sie ab. Der Mann hat ein Transparent dabei, er ist gegen das Verbot einer großen Demo der Gewerkschaften, die am Nachmittag von der Bastille durch die Stadt zur Place de la Nation laufen wollten. Bewilligt wurde nur ein ultrakurzer Marsch gegen das geplante neue Arbeitsgesetz nahe Bastille.
Wir waren wenige Stunden zuvor dort gewesen. Gegen die „manifs“, die Demos französischer Gewerkschaftler, geht der DGB gerade noch als „Mein lieber Herr Gesangsverein“ durch.
Obwohl, gesungen wird an der Bastille, bei der dieses Mal weitgehend friedlichen Veranstaltung, auch und das vehement: Die Internationale, dazu Schlachtrufe wie „Aux armes“ und „Revolution permanente“. Schwer beeindruckend, wenn nur nicht das Catering auch hier unsolidarisch hohe Preise verlangen würde.
Im Bistro Saint-Félicien ist das Bier angenehm günstig und Marc holt sich am Tresen seine Schwimmbrille ab, die er dort gegen mögliche Tränengaseinsätze der Polizei deponiert hatte.
„Bei den Taschenkontrollen vor den Demos sacken die die ein. Damit giltst du als Randalierer.“ Marc nimmt einen Schluck Orangina, dann bezahlt er mit seiner Kreditkarte. „Aber wer sind die wahren Randalierer in unserer Gesellschaft? Das sind doch die Großkapitalisten!“
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Werben um Wechselwähler*innen
Grüne entdecken Gefahr von Links
Kanzler Olaf Scholz über Bundestagswahl
„Es darf keine Mehrheit von Union und AfD geben“
Weltpolitik in Zeiten von Donald Trump
Schlechte Deals zu machen will gelernt sein
Berlinale-Rückblick
Verleugnung der Gegenwart
Einführung einer Milliardärssteuer
Lobbyarbeit gegen Steuergerechtigkeit
Nichtwähler*innen
Ohne Stimme