EM-Spiel Griechenland-Türkei: Zwischen Himmel und Hades
Otto Rehhagels Griechen können sich heute beim Spiel gegen die Türkei für die EM qualifizieren.
Otto Rehhagel ist bei seinem Job als Erforscher der griechischen Volksseele gerade einmal wieder in seinem Element. "Vielleicht", sinnierte der 69-jährige Fußballlehrer nach dem 3:2 seiner Mannschaft am Wochenende gegen Bosnien-Herzegowina, "ist es ja einfach eine Mentalitätssache, dass hier jeder, meine Spieler inklusive, schon vor dem Anpfiff dachte, wir seien bereits für die Europameisterschaft qualifiziert." Und weil er bei seiner Kritik an so mancher Nachlässigkeit in seinem Team gerade im Athener Olympiastadion stand, wechselte Rehhagel flugs die Sportart und dozierte streng: "Eine Qualifikation ist wie ein 400-m-Lauf. Wir sind auf der Schlussgeraden, haben die Ziellinie aber noch nicht überschritten."
Allerdings müssen sich seine Titelverteidiger nach dem erneuten Patzer der Türkei (1:1 in Moldawien) bei ihrem Endspurt schon sehr trottelig anstellen, um das Turnier in Österreich und in der Schweiz im nächsten Sommer noch zu verpassen. Als "Geschenk aus Moldawien" bezeichnete Mittelfeldmann Stelios Giannakopoulos deshalb auch das unverhoffte Remis des Nachbarn am Samstag, das für ihn und die Kollegen einen angenehmen Nebeneffekt hat: Gewinnt die Rehhagel-Elf am Mittwoch das brisante Duell in der Türkei, kann sie vorzeitig ihr EM-Quartier buchen. Selbst im Falle einer Niederlage hätte Griechenland beim Dreikampf mit den Türken und Norwegern um zwei EM-Plätze noch immer die beste Ausgangsposition. "Wir kommen. Poliert schon einmal den Pokal", richtete das Sportblatt Athlitiki Icho den EM-Gastgebern nach dem Sieg gegen Bosnien-Herzegowina daher bereits in Riesenlettern aus. Andererseits wird die griechische Journaille Otto Rehhagel ihre ganz großen Buchstaben trotz der guten Gesamtlage umgehend um die Ohren hauen, sollte seine Mannschaft in der EM-Qualifikation auch das zweite Spiel gegen die Türkei verlieren.
Denn das Liebesverhältnis zwischen Rehhagel und den Griechen ist in den Jahren nach dem sensationellen EM-Sieg in Portugal arg strapaziert worden. Die verpasste Teilnahme an der WM 2006 bezeichnete der größte Fan des Trainers, Verbandspräsident Vassilis Gagatsis, als "eine persönliche Enttäuschung für mich, Otto und die Spieler". Mit dem Wort Enttäuschung nur noch sehr unzulänglich beschrieben war dann allerdings das, was sich am 24. März 2007 im Karaiskakis-Stadion von Piräus zutrug.
Da unterlag Griechenland der Türkei, aber nicht einfach so. Die Rehhagel-Elf ging vor eigenem Publikum mit 1:4 unter. Zu allem Überfluss ereignete sich die Schmach am Vorabend des griechischen Nationalfeiertags, an dem seit 1821 im ganzen Land der Beginn der Befreiungskriege gegen die türkischen Besatzer gefeiert wird. Rehhagels EM-Bonus jedenfalls war endgültig aufgebraucht, und die eisernen Grundsätze des gebürtigen Esseners wurden zum Bumerang. In Portugal hatte der gelernte Anstreicher mit einem nicht eben grazilen, dafür aber defensivstarken, erstaunlich disziplinierten und fest aufeinander eingeschworenen Balltreter-Ensemble triumphiert. Nun hielten die lokalen Medien dem Trainer, der weiterhin auf einen Großteil seiner Europameister baute, den zunehmend blinden Spiegel vor. "Es riecht nach Schimmel in Rehhagels Bierkneipe", lästerte das Sportblatt Protathlitis und Athlitiki Icho bat händeringend: "Stopp, Herr Otto. Dein Stern ist erloschen, erlöse uns von deiner Sturheit."
Immerhin aber ist es die Sturheit eines Rekordhalters, der sich da im Südosten Europas seit August 2001 zwischen Schalmeienklängen und Schimmelpilz munter hin und her bewegt: Länger als der eitle Coach aus Germania hat es auf dem Posten des Nationaltrainers in der 81-jährigen Geschichte des griechischen Fußballverbandes keiner ausgehalten. Wobei Rehhagel - der inzwischen einige neue Spieler wie die Bundesligaprofis Theofanis Gekas und Ioannis Amanatidis in sein Team eingebaut hat - die Intensität seines Dauerspagats zwischen Himmel und Hades selbst als die größte Überraschung seiner griechischen Jahre bezeichnet. "Niederlagen", sagt er, "bereiten den Menschen hier fürchterliche Qualen. Siege dagegen versetzen sie in einen unendlichen Glücksrausch, sozusagen in den Olymp."
Sechs der neun Gegentreffer in der WM-Qualifikation, hatte Verbandschef Gagatsis nach dem Sturz aus dem Fußball-Olymp im Herbst 2005 nachgezählt, seien "individuellen Fehlern" entsprungen. Entsprechend empfindlich reagierten die Griechen deshalb auch, als Rehhagel-Liebling Angelos Charisteas beim Desaster gegen die Türkei im Frühjahr trotz Verletzung bis weit in die zweite Hälfte auf dem Feld blieb und Torwart Antonios Nikopolidis sich beim dritten und vierten Gegentor jeweils böse Aussetzer erlaubte. Doch die Aussetzer Einzelner wurden danach immer weniger - und nun ist die griechische Nationalelf auf Revanche geeicht. "Das 1:4 im März war heftig. Mehr als alles andere ist das Spiel am Mittwoch für uns deshalb eine Frage des Stolzes", betont Verteidiger Vassilios Torosidis vor der Partie im Stadion Ali Sami Yen in Istanbul. Und Kapitän Angelos Basinas, einer der verbliebenen Europameister von 2004, ist sich bewusst: "Seit dem Spiel gegen die Türkei im Frühjahr stehen wir bei den griechischen Fußballfans in der Schuld." Und das weiß auch Mentalitätenforscher Otto Rehhagel.
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