EKD-Chefin Käßmann zu Hartz IV: "Westerwelle gefährdet den Konsens"
Wenn schon Kinder Hartz IV fürchten, stimmt etwas nicht mit der Gesellschaft. Westerwelle sei realitätsfern, sagt die Bischöfin Margot Käßmann - und will mit ihm über soziale Fragen sprechen.
taz: Frau Käßmann, Sie haben über das Thema Armut und Kirche promoviert. Kommt Ihnen bei dem, was der FDP-Parteichef, Außenminister und Vizekanzler Guido Westerwelle nun über Hartz-IV-Empfänger sagt, nicht die Galle hoch?
Margot Käßmann: Ich finde es gut, in einem Land zu leben, in dem klar ist: Die Starken treten für die Schwachen ein. Das ist der Sozialstaat, das ist soziale Marktwirtschaft. Da dürfen auch ein paar Leute mehr verdienen, solange es keine unverantwortlichen und maßlosen Auswüchse gibt. Aber die, die nicht für sich aufkommen können, müssen eine Grundabsicherung haben. Das sichert den sozialen Frieden im Land.
Gefährdet Westerwelle durch seine Aussagen den sozialen Frieden?
Die Bischöfin: Margot Käßmann wurde als Tochter einer Krankenschwester und eines Kfz-Schlossers in Marburg an der Lahn geboren. Sie wuchs mit zwei Schwestern und einer Oma nach ihren eigenen Worten "in einem Frauenhaushalt" auf. Als Käßmann 16 Jahre alt war, starb ihr Vater. Inspiriert durch das Leben Martin Luther Kings studierte sie Theologie. Im Juli 1983 wählte die Vollversammlung des Weltkirchenrates in Vancouver Käßmann, gerade mal 25 Jahre alt, als jüngstes Mitglied in den Zentralausschuss des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK). Erst zwei Jahre später wurde sie zur Pfarrerin ordiniert. 1995 wurde Käßmann Generalsekretärin des Deutschen Evangelischen Kirchentages. Die Synode der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Hannover wählte Käßmann 1999 im dritten Wahlgang mit drei Stimmen Mehrheit zur Bischöfin der größten Landeskirche Deutschlands. Sie war nach Maria Jepsen in Hamburg erst die zweite Frau in dieser Position. Am 28. Oktober vergangenen Jahres wurde Käßmann in Ulm von der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) mit 132 von 141 Stimmen als erste Frau in das Amt des EKD-Ratsvorsitzenden gewählt.
Das Schicksal: Vor vier Jahren erklärte Käßmann öffentlich, dass sie an Brustkrebs erkrankt ist. Wenig später machte sie öffentlich, dass sie sich nach 26 Ehejahren von ihrem Mann scheiden lassen wolle. Sie hat mit ihm vier, inzwischen erwachsene Töchter. Käßmann hat in ihrem jüngsten Buch "In der Mitte des Lebens" offen die Trennung von ihrem Mann und die Krebserkrankung thematisiert. Ingesamt hat die Bischöfin über 30 Bücher geschrieben. Ihr neuestes ist ganz oben auf den Bestsellerlisten.
Die Afghanistan-Debatte: Zu Weihnachten vergangenen Jahres hat Käßmann in einem Interview gesagt, der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan sei "in keiner Weise" zu rechtfertigen. Bei ihrer Neujahrspredigt in Dresden unterstrich sie: "Nichts ist gut in Afghanistan." Daraufhin war sie harscher Kritik vor allem aus der Politik ausgesetzt, ihr wurde Naivität vorgeworfen. Sie verunsichere die Bundeswehr-Soldaten am Hindukusch. Zwar gab es ein - offenbar freundliches - Gespräch mit Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) zu ihren Äußerungen. Von diesen aber nahm Käßmann nichts zurück.
Den sozialen Frieden? Vielleicht eher den sozialen Konsens. Als ich zuletzt in den USA war, hat mir ein 75-jähriger Mann, weil er keinerlei Rente hatte, meine Einkäufe in eine Tüte gepackt. Das war mir absolut unangenehm. Wir können ein bisschen stolz sein auf ein Land, wo das nicht möglich ist, wo meine Steuern dazu verwendet werden, das zu vermeiden.
Was sagt das über ein Land aus, wenn sich der Vizekanzler so über Hartz-IV-Empfänger äußert?
Wir haben den Verfassungsgrundsatz "Die Würde des Menschen ist unantastbar". Ich fürchte, durch Westerwelles Aussagen bekommen wir eine weitere Drehung in der Spirale hin zu einer Neidgesellschaft. Als ich aufgewachsen bin, gab es eine breite Mittelschicht und kleine Ränder von ganz reichen und ganz armen Menschen. Wenn die Schere heute weiter auseinander geht, wird auch der soziale Friede gefährdet.
Noch mal nachgefragt: Wie finden Sie das, wenn in einer Koalition mit einer Partei, die das "C" im Namen hat, der Vizekanzler solche Dinge sagt?
Ich finde es despektierlich gegenüber Menschen, die auf Hartz-IV angewiesen sind. Meinem Eindruck nach hat jeder Mensch das Bedürfnis, durch Erwerbsarbeit auf eigenen Beinen zu stehen. Aber wir müssen einfach auch akzeptieren, dass es Menschen gibt, die alleine nicht in der Lage sind, für sich aufzukommen.
Müsste die Kanzlerin Angela Merkel Westerwelle zur Ordnung rufen?
Ich werde Frau Merkel nicht empfehlen, was sie Herrn Westerwelle sagen soll.
Aber was Westerwelle sagt, geht doch weit über die übliche FDP-Rhetorik hinaus.
Ich würde gerne mal mit Herrn Westerwelle in eine Jugendwerkstatt gehen, dahin, wo die Jugendlichen sind, die es alleine niemals schaffen werden. Ich denke, dass manche, die in wohl situierten Umständen leben, keine Vorstellung davon haben, wie hoffnungslos einige inzwischen sind. Es gibt Interviews mit acht bis 12-Jährigen, die sagen: Ich habe keine Chance und werde mal auf Hartz-IV gehen. Und wenn das schon Kinder sagen, muss man sich schon fragen, wo wir sozialpolitisch sind.
Was ist das sozialpolitische Konzept der FDP?
Das würde ich die FDP in der Tat gerne fragen. Denn immer nur von Fordern zu sprechen und davon, die Eigeninitiative zu stärken, hilft den Menschen nicht, die gar nicht wissen, was Eigeninitiative ist. Wir werden als Rat der EKD das Gespräch mit der FDP suchen, auch zu diesen Fragen.
Die großen Banken, die ja für die Finanz- und Wirtschaftskrise mitverantwortlich sind, schütten inzwischen wieder Boni in Millionenhöhe aus, und gleichzeitig wird diskutiert, ob die Höhe der Hartz-IV-Sätze gerechtfertigt ist. Wie passt das denn ihrer Meinung nach zusammen?
Das passt natürlich nicht zusammen. Aber wir haben ja ein Urteil des Bundesverfassungsgerichtes, das verlangt, dass viel genauer als bisher hingeschaut wird. Und das begrüße ich sehr.
Was kann man denn dagegen machen, dass die Gesellschaft sozial immer weiter auseinander driftet?
An die soziale Verantwortung appellieren. Ich bin davon überzeugt, dass es bei vielen Menschen ein Grundgefühl von sozialer Verantwortung gibt, auch wenn viele sagen, unsere Gesellschaft bestehe überwiegend aus Egomanen. Ich erlebe es immer wieder, dass die Menschen, die persönlich gefragt werden, auch bereit sind, ihren Reichtum zu teilen, Geld zu geben oder Zeit. Wenn wir fragen, haben Sie Zeit, drei Stunden in der Schule Lesehilfe zu geben, dann machen die Menschen das auch. Wenn ich für ein konkretes Projekt Geld brauche, spenden viele gern. Wir müssen also ein System entwickeln, das die Menschen bei ihren Kompetenzen abholt und sozial einbindet. Reichtum wird auch in der Bibel nicht verurteilt. Es kommt darauf an, wie man mit ihm umgeht.
Besteht nicht ganz grundsätzlich die Gefahr, dass sich der Staat darauf verlässt, dass die Kirchen zu den Suppenküchen der Gesellschaft werden?
Ich wünsche mir, dass unsere Kirchen Reiche und Arme zusammen bringen, und zwar auf Augenhöhe, so dass die Würde des anderen gewahrt bleibt. Dass sich die Hartz-IV-Empfängerin neben dem Unternehmer nicht schämen muss. Gemeinden und Diakonie können da eine stark bindende und verbindende Kraft sein.
Aber die Aufspaltung der Gesellschaft macht doch vor den Kirchentüren nicht Halt.
Die Gefahr ist dann da, wenn die Kirchen sich selbst sozial aufspalten, wenn die einen also in eine reiche Kirche gehen und die anderen in eine arme. Wir sehen solche Beispiele in den USA und Korea, dort gibt es sehr wohlhabende und sehr arme Kirchen.
Ist es nicht ein Problem, dass die Kirchen doch sehr von der Mittelschicht geprägt sind und dadurch die Empathie für die Armen verloren gehen könnte?
Nein. Wenn Sie sich ansehen, wo unsere Gelder hinfließen, dann sind das nach den Gemeinden überwiegend die Bereiche Armutsbekämpfung, Kindererziehung, Sozialarbeit, Schülerhilfen, Schuldnerberatung, Pflege. Wichtig ist dabei natürlich, dass die Armen nicht nur Objekte unserer Zuwendung werden, sondern Subjekte unserer Theologie, unseres Gemeindelebens, unseres Glaubens sind. Aber ich erlebe ein hohes Bewusstsein in unseren Gemeinden, was das anbelangt. Ich war gerade in Bremerhaven, dort gibt es Gemeinden mit einem Arbeitslosenanteil von 22 Prozent. Das prägt natürlich auch das Gemeindeleben. Kirche ist dort ein Ort, wo sich verschiedene soziale Gruppen begegnen.
Befürchten Sie nicht, dass der Staat soziale Verantwortung auf die Kirchen abschiebt?
Was die Kirchen tut, kann immer nur exemplarisch sein, wir können beispielsweise in einer hannoverschen Schule eine Mittagstafel anbieten, bei der 20 Kinder warmes Essen und Hausaufgabenhilfe bekommen. Eigentlich sind 250 Kinder bedürftig, aber das können wir uns nicht leisten. Es muss Schulen geben, bei denen der Staat dafür zahlt, dass jedes Kind ein warmes Mittagessen bekommt. Hier kann die Kirche nicht die Aufgaben des Staates übernehmen, sondern sollte ihn dazu drängen, seine Pflichten zu erfüllen.
Man hat aber nicht den Eindruck, dass das die Armutspolitik der christlich-liberalen Koalition ist.
Die Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen würde diese Forderung unterstützen. Es ist aber natürlich dann auch die Frage, wie durchsetzungsfähig eine solche Forderung in der Koalition ist.
Hat Kanzlerin Merkel auch dieses Bewusstsein?
Das glaube ich schon.
Weil sie eine Pfarrerstochter ist?
Vielleicht auch, denn so ein Pfarrhaus kann schon sehr positiv prägen.
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