piwik no script img

EIN BLICK AUS ISTANBUL AUF DAS DRAMA VON SEBNITZHinten, weit, in Deutschland

„Hinten, weit, in der Türkei“ ist ein gebräuchlicher Topos in der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts. Er dient dazu, kaum fassbare, weit außerhalb der zivilisierten Gesellschaft stattfindende Ereignisse zu beschreiben. „Hinten, weit, in der Türkei“ ist am Rande Europas, wo die Barbaren hausen – ein Ort, den man nicht kennt. Mittlerweile leben wir im Zeitalter der Datenautobahnen. Wir wissen Bescheid. Trotzdem macht der Topos aus dem 19. Jahrhundert noch Sinn: Jenseits des Bescheidwissens, des mehr oder weniger routinierten Umgangs mit Informationen, gibt es Bereiche des Unfassbaren, die sich durch eine Anhäufung von Wissen eher verschließen als erhellen.

Schaut man von außen auf Deutschland, so wird immer klarer: „Hinten, weit, in der Türkei“; das ist nicht mehr an der Peripherie, das liegt mitten im Herzen Europas. Am Ort des Geschehens sieht man den Wald vor lauter Bäumen nicht – aus der Ferne jedoch ist offensichtlich: Die Barbarei kommt zurück. Tausende von Einzelinformationen fügen sich aus ein paar tausend Kilometern Distanz leicht zu einem Bild zusammen. Täglich gibt es in Deutschland rassistisch motivierte Angriffe auf Bewohner dieses Landes. Angriffe die, wie selbst das Bundeskriminalamt bestätigte, man zumeist nicht als solche wahrhaben will – über die aber dennoch alle Bescheid wissen. Erreichen sie eine Intensität wie 1992 in Rostock-Lichtenhagen, Mölln oder Solingen, dann bilden die „Anständigen“ im Land eine Lichterkette und vergewissern sich so, dass sie noch da sind. Unterdessen geht das Morden weiter, bis es wieder zu einem nicht mehr zu übersehenden Massaker wie bei dem Bombenattentat von Düsseldorf kommt, woraufhin es wiederum eine Lichterkette gibt.

Obwohl man offiziell über die Täter von Düsseldorf immer noch nichts weiß, ist in Deutschland doch klar, dass ausländische Besucher bestimmte Regionen des Landes tunlichst zu meiden haben, auch wenn das offiziell natürlich bestritten wird. Bis jetzt ist der Tod des sechsjährigen Joseph im Spaßbad in Sebnitz offiziell nicht aufgeklärt. Immerhin sieht die Staatsanwaltschaft sich genötigt, nach drei Jahren den bereits längst zu den Akten gelegten Fall neu zu untersuchen. So furchtbar ist der Verdacht, dass jeder inständig hofft, es möge sich wider alle Wahrscheinlichkeit doch noch als Badeunfall herausstellen. Was man in Deutschland aber offenbar noch nicht wahrhaben will, ist im Ausland heute längst unstrittig. Es könnte sein, dass eine Horde Neonazis unter den Augen von 300 Badespäßlern einen sechsjährigen Jungen aus einer binationalen Familie ertränkt.

Noch vor zehn Jahren wäre auch bei Leuten, die Deutschland aus leidvoller Erfahrung mit Skepsis betrachten, eine Geschichte wie die aus dem Freibad auf ungläubiges Kopfschütteln gestoßen. Das ist nun nicht mehr so. Während es in den Nachbarstaaten der Bundesrepublik zwar auch einen anschwellenden rassistischen Bocksgesang gibt, der Leute wie Haider und Le Pen nach oben gespült hat, wird in Deutschland gemordet. Und wenn der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde dort fragt, ob rassistisch motivierte Menschenhatz zur deutschen Leitkultur gehört, löst dies offenbar nicht Betroffenheit, sondern wütende Kritik aus – als habe die Frage keine Berechtigung. Offenbar will man in Deutschland nach wie vor nicht wahrhaben, was doch ganz offensichtlich ist.

Geschichte wiederholt sich nicht, die Bundesrepublik ist kein präfaschistischer autoritärer Staat – aber Deutschland ist dabei, wieder auf einen Sonderweg zu geraten. Anders als sonst in Europa, geschweige denn in den USA, Kanada oder Australien, besteht die Mehrheit der Deutschen offenbar darauf, in einer ethnisch homogenen Gesellschaft leben zu wollen. Und spätestens seit der erfolgreichen Kampagne der hessischen CDU gegen den Doppelpass sieht es ganz so aus, als habe dies jeder Deutsche begriffen und verhielte sich entsprechend. Die CDU freut sich, mit ihrer Parole von der Leitkultur endlich wieder einen Treffer in der deutschen Volksseele gelandet zu haben, Schröder wirbt für den nützlichen Ausländer, der weiß, wie man einen Computer bedient, die PDS entdeckt ihre Liebe zu Deutschland, und die Grünen stellen fest, dass Multikulti schon immer ein Versehen war. In einer Welt, in der ethnisch homogene Gesellschaften zur Lebensform abgelegener Bergregionen wird, will mitten in Europa, „hinten, weit, in Deutschland“, ein Volk unter sich bleiben. Wenn’s sein muss, auch mit Gewalt. JÜRGEN GOTTSCHLICH

Der Autor ist Korrespondent unserer Zeitung in der Türkei.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen