Dumme Jungs: Die Pflegeleichten als Norm
Brave Mädchen sind das Unterrichtsideal. Und Bürgersöhne haben weniger Probleme. Für die schulischen Leistungen ist die soziale Herkunft wichtiger als das Geschlecht.
Dritte Stunde an einer weiterführenden Schule: Die Kinder haben gerade die "große Pause" hinter sich. Dennoch herrscht große Unruhe, zu der vor allem die Jungen beitragen. Es hält sie nicht auf ihren Stühlen, sie toben durch den Klassenraum, raufen und schreien. Still wird es erst, als die Lehrerin die Rückgabe der Deutscharbeit ankündigt. Diese sei schlecht ausgefallen, sagt sie. Die männlichen "Störer", die sie eben noch ermahnt hat, teilen sich die Fünfen und Sechsen.
"Auch acht Jahre nach der ersten Pisa-Studie bleibt die Bildungssituation von Jungen bestenfalls ein Randthema", schreibt Bruno Köhler in einer Expertise für MANNDat. Die Geschlechterpolitische Initiative hat ihre Befragung von Kultusministern zur Jungssituation fortgeschrieben. Jungen haben danach schlechtere Abschlüsse und Leseleistungen, sie haben mehr negative Befunde bei Einschulungsuntersuchungen. Aber die genauen Ursachen, so Köhler, werden von Ministerien nicht erforscht, weil die Schuldigen schon feststehen: "die Jungen selbst".
"Eine typische Situation", erzählt Frank Beuster, Lehrer an einer Hamburger Gesamtschule. Er beobachtet eine große Ratlosigkeit gerade im weiblichen Teil des Kollegiums. Wenn Schüler im Unterricht schwer zur Ruhe kommen, stecke oft Bewegungslust dahinter. Die aber sei im Schulalltag weitgehend unerwünscht. Für Prügeleien und Lärm gebe es "null Toleranz". Das "pflegeleichte Mädchen" sei zum Maßstab geworden, so Beusters kritisches Fazit. Er verlangt eine "geschlechtsbezogene Pädagogik", die den wachsenden Rollenkonflikten männlicher Jugendlicher gerecht wird.
Zwei Studien gehen nun dem Phänomen der schlechten Jungs auf die Spur. Die Geschlechterpolitische Initiative MANNDat hat in den Ländern nachgefragt, was die Kultusminister gegen die Benachteiligung von Jungs tun. Der Berliner Geschlechterforscher Michael Cremers hat für das Bundesfamilienministerium versucht herauszufinden, wie man mit der Situation umgehen kann.
"Kein Streber sein", so erläutert der Wissenschaftler Cremer, betrachten Jungen als einen Teil ihrer Männlichkeit. Sie wollen sich so abgrenzen und von Frauen unterscheiden. Zum Selbstverständnis männlicher Jugendlicher gehöre es, "cool, witzig und faul zu sein", analysiert Cremer. In den Lehrerzimmern werden sie daher "dem widerständigen und sozial auffallenden Schülertypus" zugerechnet.
"Männlich, jung, Hauptschule" - so heißt regelmäßig die Kurzanalyse der Wahlforscher, wenn rechtsradikale Parteien spektakuläre Stimmengewinne erzielen. Die jungen Kerle, denen vor allem in den strukturschwachen Regionen des deutschen Ostens keine attraktive Männerrolle mehr erreichbar scheint, gelten als besonders anfällig für Aggressivität und Extremismus. Nicht nur spektakuläre Amokläufe belegen, dass Gewalt an Schulen ein Jungenproblem ist.
Pauschale Zuschreibungen sind jedoch fragwürdig. So erbringen Schüler aus bürgerlichen Familien häufig über dem Durchschnitt liegende Leistungen. Nicht jeder junge Mann droht gleich zum Perspektivlosen zu werden. Nach der Berufsausbildung bekommen männliche Absolventen häufiger ein Übernahmeangebot. In vielen Branchen profitieren sie von einem nach wie vor auf Männer ausgerichteten Arbeitsmarkt. In der Vergangenheit hatten Jungen trotz schlechterer Schulabschlüsse bessere Chancen auf eine Lehrstelle als Mädchen. Inzwischen aber müssen immer mehr junge Männer zunächst an berufsvorbereitenden Maßnahmen teilnehmen, schreibt Cremer, "damit sie überhaupt den Qualitätsanforderungen des Ausbildungsmarktes genügen".
Bei den gering Qualifizierten findet eine Angleichung der Geschlechter nach unten statt. Auch Männer sind mit unsicheren Erwerbsverläufen konfrontiert, die für Frauen schon immer als "normal" angesehen wurden. Einem Teil der Jungen droht damit eine Zukunft, die durch unsichere Arbeitsformen der Selbstständigkeit und Geringfügigkeit, durch Niedriglöhne, Minijobs oder befristete Beschäftigung charakterisiert ist.
Der Abstand zwischen der Erwartung, die traditionelle Ernährerrolle ausfüllen zu können, und den tatsächlichen beruflichen Möglichkeiten, wächst. Schulabgänger spüren diesen Widerspruch schon bei der Suche nach einer Lehrstelle. Nach hundert abgelehnten Bewerbungen macht sich aus verständlichen Gründen Frust breit. Jungen haben sich im Unterricht meist wenig mit ihren beruflichen Perspektiven beschäftigt. Gesellschaftliche Normen weisen ihnen die Funktion des Versorgers zu, vielen aber dürfte es schwerfallen, dieser Aufgabe in einer umstrukturierten Arbeitswelt gerecht zu werden.
Die Erfolge im deutschen Schulsystem, so die Expertise des Familienministeriums, hängen vorrangig von der sozialen Schicht der Eltern und von der ethnischen Zugehörigkeit ab. Erst als drittes Kriterium folgt das Geschlecht. "Das katholische Arbeitermädchen vom Land, das früher als Prototyp der schulischen Bildungsverliererin galt, ist vom Migrantensohn aus einer bildungsschwachen Familie abgelöst worden", fasst Forscher Cremers zusammen. In der MANNDat-Studie kann man sehen, dass 10 Prozent der Jungen Schulabbrecher sind - aber fast 23 Prozent der Migrantenjungen. Männer bis 24 Jahre sind stärker von Jugendarbeitslosigkeit betroffen als Frauen gleichen Alters - und mit fortwährenden Erlebnissen des Scheiterns konfrontiert. Manche flüchten sich in ein konservatives Männerbild. Vaterschaft setzen sie damit gleich, "gutes Geld" zu verdienen und eine Familie zu unterhalten - ein Ziel fernab der Realität.
In den Pflegeberufen, im Callcenter, bei der Polizei, in öffentlichen Verkehrsmitteln oder auch beim Service für technische Geräte erwarten Arbeitgeber heute Kommunikationstalent, Einfühlungsvermögen und Kundenorientierung - Eigenschaften, die sie eher Frauen zutrauen. Wenn männliche Schulabgänger nicht abgehängt werden wollen, müssen sie sich auf diese veränderten Anforderungen einstellen.
"Jungen brauchen pädagogische Impulse, um sich anders zu orientieren", sagt Forscher Cremers. Die Schule könne nicht mehr einseitig auf den Beruf, sondern sollte auf die Wechselfälle des Lebens vorbereiten. Sie müsse die Blockaden in den Köpfen beseitigen: Soziale Tätigkeiten wie Erzieher oder Altenpfleger sind eben keine von vornherein indiskutablen "schwulen Berufe" - wie sie im Slang von Jungencliquen bisweilen heißen. Wenn junge Männer zum Beispiel kranke Menschen versorgen, kann das eine sinnvolle Berufswahl sein - und besser als Arbeitslosigkeit.
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