„Dschungel“ bei Calais: Eine zweite Reihe mit Türstehern
Vor einem Jahr wurde das Camp plattgemacht. Die Menschen kommen trotzdem. Doch die EU mauert mit massiven Abwehrmaßnahmen.
Orte wie Calais belegen für zahlreiche Migrationspolitiker der EU Handlungsbedarf. Und natürlich die Häfen Süditaliens, vor allem Siziliens, wo afrikanische Flüchtlinge in den letzten Jahren in immer größerer Zahl ankamen. Laut UNHCR waren darunter allein im Jahr 2015 40.000 Eritreer. Mit den Versuchen zur Schließung der Mittelmeerroute hat diese Zahl etwas abgenommen. Unverändert dagegen verlassen nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR monatlich nach wie vor 5.800 Eritreer das fünf Millionen Einwohner zählende, diktatorisch regierte Land am Roten Meer, wo nach Angaben von Sheila B. Keetharuth, UN-Sonderbeauftragte zur Menschenrechtslage in Eritrea, willkürliche Verhaftungen ohne Gerichtsverfahren, unbegrenzte Haft unter miserablen Bedingungen und außergerichtliche Hinrichtungen an der Tagesordnung bleiben. „Wir haben gute Gründe anzunehmen, dass dort Verbrechen gegen die Menschlichkeit stattfinden“, sagte sie vorige Woche bei einer hochkarätig besetzten Konferenz zur Situation eritreischer Geflüchteter in Europa.
Zentraler Punkt, der die Menschen in die Flucht treibt, bleibt demnach der berüchtigte unbegrenzte Militärdienst in Eritrea. Filmon Debru, ein inzwischen in Deutschland lebender Geflüchteter, nennt ihn eine „Ausrede, die Bevölkerung zu versklaven“. Gaim Kibreab, Professor der London South Bank University und Buchautor zum Thema, betont: „Ein Kommandeur hat sämtliche Macht, mit den Rekruten zu machen, was er will.“
Die Zahl der Auswanderer aus Eritrea bleibt konstant – aber die Zahl derer, die Europa erreichen, sinkt. Grund dafür ist der sogenannte Khartum-Prozess, benannt nach Sudans Hauptstadt, wo er beschlossen wurde: ein Abkommen zwischen 58 europäischen und afrikanischen Staaten, darunter Eritrea, initiiert vor knapp drei Jahren in Rom, um „irreguläre Migration“ aus den Krisenländern am Horn von Afrika zu begrenzen. Der damalige deutsche Innenminister Thomas de Maizière sagte, man wolle Fluchtursachen bekämpfen und illegale Migration durch Transitländer nicht stattfinden lassen.
Regimequellen als Berichterstatter
Wie wichtig Eritrea in diesem Konzept ist, belegen die hohen Anerkennungsquoten für von dort Geflüchtete. 2016 lag sie in Europa bei durchschnittlich 92 Prozent, in Ländern wie Deutschland (97,6 Prozent) oder Norwegen (98 Prozent) deutlich höher. Umstritten ist in diesem Zusammenhang eine fact finding mission des schweizerischen Staatssekretariats für Migration nach Eritrea 2015. In ihren Bericht flossen neben Einschätzungen von Menschenrechtsorganisationen und ausländischen Diplomaten in der eritreischen Hauptstadt Asmara auch Regimequellen ein, obwohl das eritreische Regime international geächtet ist.
Teilnehmer der Brüsseler Konferenz befürchten, entsprechende Länderberichte könnten von der EU als Basis einer repressiven Asylpraxis herangezogen werden. Anzeichen dafür sind deutlich: So basierte der Eritrea-Report des European Asylum Support Office (EASO) 2016 auf dem Schweizer Dokument. „Ein sehr drastischer neuer Ansatz“, kommentiert der Anwalt Daniel Mekonnen, Mitglied der in Genf ansässigen Eritrean Law Society.
Bernd Mesovic, rechtspolitischer Sprecher von Pro Asyl, kritisiert den Khartum-Prozess als Versuch, die Flüchtlingsabwehr aus Nordafrika noch weiter nach Süden zu verlagern und „hinter der ersten Reihe Türsteher eine zweite zu errichten“.
Welche Dimension das annimmt, zeigt sich zurzeit in Brüssel. Seit Wochen schlafen dort Transitmigranten, die nach England wollen, wild in einem Park am Nordbahnhof. Ende September wurden 43 Personen, die bei einer Razzia festgenommen worden waren, in Zusammenarbeit mit einer Delegation der Regierung Sudans als Sudanesen identifiziert und in Abschiebehaft genommen. Nach heftigen Protesten von Menschenrechtsgruppen hat ein Gericht in Lüttich die Abschiebungen ausgesetzt.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kanzler Olaf Scholz über Bundestagswahl
„Es darf keine Mehrheit von Union und AfD geben“
Weltpolitik in Zeiten von Donald Trump
Schlechte Deals zu machen will gelernt sein
Werben um Wechselwähler*innen
Grüne entdecken Gefahr von Links
Emotionen und politische Realität
Raus aus dem postfaktischen Regieren!
Einführung einer Milliardärssteuer
Lobbyarbeit gegen Steuergerechtigkeit
Berlinale-Rückblick
Verleugnung der Gegenwart