■ Dröpje for Dröpje Qualitait: Von der Wirklichkeit gut abgeschirmt, verabschiedeten die EU-Regierungschefs gestern in Amsterdam Punkt für Punkt den neuen EU-Vertrag.: Der Bürger in der Ferne so nah
Dröpje for Dröpje Qualitait: Von der Wirklichkeit gut abgeschirmt, verabschiedeten die EU-Regierungschefs gestern in Amsterdam Punkt für Punkt den neuen EU-Vertrag.
Der Bürger in der Ferne so nah
Die provisorischen TV-Studios stehen genau auf den Straßenbahnschienen, in einem der Pressezelte steht sogar eine Verkehrsampel, an die ein Witzbold sein Fahrrad gelehnt hat. Für den EU- Gipfel in Amsterdam wurde ein ganzes Stadtviertel eingegittert und kurzerhand zum Pressezentrum umfunktioniert. Der Kontakt zur Außenwelt läuft fast ausschließlich über die 2.000 Telefone. Im Verpflegungszelt sitzt einsam ein Journalist, der tatsächlich selbst draußen war und jetzt ständig Auskunft geben muß, was es mit dem tiefblauen Auge und der Platzwunde auf sich hat: „Die Bullen“, würgt er knapp hervor.
Daß es in der Welt draußen, ein paar Hausecken weiter, Straßenschlachten gegeben hat, zeigen auch die Fernsehschirme, die überall aufgestellt sind und nebenbei die Pressekonferenzen der Regierungschefs und ihrer Finanzminister ankündigen. Für die Präsidenten, Kanzler, Premiers und ihre Finanzminister ist die Wirklichkeit draußen unerheblich. Daß 18 Millionen Arbeitslose in der Europäischen Union zuviel sind, ist ihnen inzwischen durchaus klar. Es ist auch nicht so, daß sie nichts tun wollen, wie der verbitterte Streit zwischen Frankreich und Deutschland um das Beschäftigungskapitel im künftigen EU-Vertrag zeigt. Nur sind die Vorstellungen darüber, wie Arbeitsplätze entstehen, sehr unterschiedlich. Es ist in etwa derselbe Streit, den dieselben Regierungschefs schon am Vortag über den Stabilitätspakt für den Euro ausgefochten haben.
Und so wird der Amsterdamer Gipfel, auf dem eigentlich die EU reformiert werden sollte, wieder einmal von einem sehr unergiebigen Meinungsaustausch über die Beschäftigungspolitik geprägt. Die einen glauben, daß die Regierungen nur fest sparen müßten, damit die Staatsschulden sinken und die Zinsen nach unten gehen. Niedrige Zinsen seien der beste Anreiz für Investitionen. Die Wirtschaft werde die Arbeitsplätze dann schon schaffen.
Ein paar Zelte weiter, aber immer noch innerhalb des Zauns, findet eine Art Gegenveranstaltung statt. Dort sitzt der frischernannte französische Wirtschafts- und Finanzminister Dominique Strauss- Kahn auf dem Podium, und schon die Fragen der französischen Journalisten lassen ahnen, daß hier anders gedacht wird. Was nun aus den 700.000 Arbeitsplätzen werde, die der Sozialist Jospin im Wahlkampf versprochen habe. Mit professoraler Würde erklärt Strauss- Kahn, wie er den Deutschen einen Passus abgerungen habe, nach dem die EU künftig kleinere Pilotprojekte zur Beschäftigungsförderung finanzieren soll. Ein Anfang sei das, sagt Strauss-Kahn, obwohl er weiß, daß die Deutschen bereits in einer Zusatzerklärung zur Mehrheitsentscheidung durchgesetzt haben, daß für solche Projekte nur vorhandene Mittel umgeschichtet werden dürfen.
Doch für Paris ist es wichtig, daß die EU erst einmal den grundsätzlichen Auftrag bekommt, aktiv Beschäftigung zu fördern. Denn die eigene Haushaltslage ist äußerst angespannt, und außerdem weiß auch der französische Finanzminister, daß man mit Beschäftigungsmaßnahmen höchstens zwei bis drei, auf keinen Fall aber zehn Prozent Arbeitslose von der Straße holen kann.
Für die Regierungschefs hat die ganze Diskussion immerhin den Vorteil, daß sie die wirklichen Probleme der Bürger berührt und deshalb nicht so auffällt, wie weit der übrige EU-Vertrag hinter den Erwartungen zurückbleibt. Von der gemeinsamen Außenpolitik etwa oder der verstärkten Zusammenarbeit bei Polizei und Justiz, wie sie vor fünf Jahren als Rahmen zum Euro geplant war, ist wenig übriggeblieben. Auch die Ausweitung der Mehrheitsentscheidungen, notwendig für die Handlungsfähigkeit der EU nach der beschlossenen Osterweiterung, ist im Gestrüpp der nationalen Einwände hängengeblieben.
Kurz vor dem Endspurt, am Dienstag morgen, wird von der niederländischen Präsidentschaft ein letzter Entwurf verteilt, der die mittlerweile anderthalb Jahre dauernde Diskussion zwischen den Regierungen zusammenfaßt. Längst ist jeder Artikel, der einen Fortschritt darstellt, durch drei angehängte Artikel wieder eingeschränkt. So hat die deutsche Regierung darauf gedrängt, daß die Visum- und Asylpolitik doch wieder in entscheidenden Punkten auf nationale Ebene zurückgeschoben wird. Das hat viele überrascht, weil gerade Bonn in diesem Bereich auf eine verstärkte Zusammenarbeit und einen schrittweisen Übergang zu Mehrheitsentscheidungen gedrängt hat, um die parlamentarische Kontrolle abzuhängen. Aber dann ist der bayerischen Staatsregierung aufgefallen, daß bei einer gemeinsamen EU-Asylpolitik auch Flüchtlinge aus Frankreich und Spanien ins gelobte Deutschland drängen könnten. Also wurde alles wieder zurückgedreht, es bleibt bei der Einstimmigkeit. Auch bei der Umweltpolitik haben sich die Regierungschefs etwas einfallen lassen. Da kann zwar künftig kein Land mehr mit einem Veto alles aufhalten und auch das Europäische Parlament darf mitentscheiden, was zweifellos ein Fortschritt ist. Doch im Gegenzug wird es nun praktisch unmöglich, höhere nationale Standards beizubehalten, wie das bisher erlaubt war. Wenn eine Regierung beispielsweise schärfere Schadstoffnormen einführen will, muß sie nachweisen, daß die neue Regelung wissenschaftlich begründet und aufgrund nationaler Besonderheiten nötig ist – und außerdem den Handel nicht behindert.
Was dann noch nicht tot ist, kann die EU-Kommission durch bloßes Abwarten abwürgen. Die Industrielobby hat ganze Arbeit geleistet. Damit trotzdem nicht der Eindruck entsteht, der Amsterdamer Gipfel habe sich nicht um mehr Umweltschutz bemüht, überreichte die niederländische Ratspräsidentschaft jedem Regierungschef ein überaus umweltfreundliches Hollandrad. Alois Berger, Amsterdam
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