: Drei Löwen der Armut
Auch gegen zahlenmäßig unterlegene Brasilianer kann ein kraftloses englisches Team seinen Rückstand nicht aufholen, und die Südamerikaner ziehen mit dem 2:1-Sieg ins Halbfinale ein
aus Shizuoka MARTIN HÄGELE
Manchmal hilft die Statistik, ein Spiel besser zu begreifen. Obwohl nicht viele geglaubt hätten, man müsse ein Spiel, das für viele Experten als das vorweggenommene Endspiel der WM galt, anhand von ein paar nüchternen Zahlen erklären. England brachte in 98 Minuten exakt nur zwei Bälle auf das Tor von Marcos. Dass der Torwart der „Seleção“ beim ersten Schuss von Michael Owen gleich geschlagen war (22.), hatte auch noch mit einem Missgeschick Lucios zu tun. Im Grunde genommen war es ein Geschenk des Leverkusener Stoppers, dem der Ball vom Oberschenkel gesprungen war – genau in den Lauf von Michael Owen: 1:0, besser hätte es für die selbtbewussten Kicker des Empire wirklich nicht beginnen können.
Doch die Geschichte dieses Viertelfinales sollten später ganz andere Zahlen erzählen. Auch die Story, wie der fromme Luzio seinen Fehler wieder gutmachte. An dem hünenhaften Abwehrspieler begingen die Engländer anschließend sieben Fouls, mehr als an Ronaldo oder Rivaldo. Was zeigt, wie effektiv die zuletzt als die schwächsten Posten ihres Ensembles gehandelten Abwehrspieler dieses Mal arbeiteten. Good old England ist nämlich keinesfalls im Spielrausch der viermaligen Champions untergegangen. Sie unterlagen ganz einfach, weil selbst neun brasilianische Feldspieler mehr rannten und rackerten als zehn vom Mutterland.
Die einzige Samba-Nummer hatte Ronaldinho in der Nachspielzeit der ersten Hälfte auf den Rasen gelegt. Dem fantastischen Dribbling folgte eine akkurate Vorlage für Rivaldo – und solche Einladungen nimmt der Goalgetter dankbar an: sauber eingelocht bei der ersten Gelegenheit, die sich dem ehemaligen Weltfußballer geboten hat. Auch so zeigt sich Klasse.
Das Tor hätte Sven-Göran Erikssons Team nicht ungeschickter treffen können, hätte man gedacht, so kurz vor der Pause – doch dann folgte schon fünf Minuten später Seamans Aussetzer. Hat der alte Mann von Arsenal womöglich doch zu lange in Englands Tor gestanden? Oder was bewegte den 38-Jährigen, so fahrlässig weit entfernt von seinem Kasten auf den Freistoß Ronaldinhos zu warten. Der Extravaganteste der brasilianischen Ballkünstler war immer noch aufgedreht von seinem Beitrag zum Ausgleichstreffer – wieso in dieser Stimmung nicht einen Kunstschuss riskieren? Und wenn Ronaldinho ein paar Minuten später sein Temperament gezügelt hätte, als Danny Mills seinen Frust an dem Matchwinner ausließ, wäre er hernach auch bestimmt zum Mann des Spiels ausgerufen worden.
Doch weil er sich für Mills rüdes Einsteigen in der gleichen Tonart revanchierte, musste er vom Feld. Doch schon bald merkten die Brasilianer, dass die zahlenmäßig überlegenen Gegner gar nicht mehr in der Lage waren, überhaupt eine gefährliche Aktion heraufzubeschwören. „Wir haben“, und das hörte sich aus Erikssons Mund richtig hart an, „in der zweiten Hälfte zu wenig getan.“
Wo war der große Beckham, Britanniens magischer rechter Fuß und charismatischer Leader? Die Supernova englischer und japanischer Medien verlor das Duell an der Außenlinie klar gegen Roberto Carlos. Die drei Löwen auf den weißen Trikots standen an diesem Nachmittag von Shizuoka für Hilflosigkeit, Müdigkeit und spielerische Armut. Die Ideen und die Energien, die Rio Ferdinands Vordermännern fehlten, ließen sich nicht durch die Gesänge der ganz auf England gestimmten Galerie auffrischen.
Und so hat nun der nächste Turnierfavorit „Sayonara“ gesagt; was sich nicht unbedingt auf die Festivalatmosphäre auswirken wird. Vielleicht sollten wir auch noch den viel kritisierten Trainer Scolari erwähnen. Der hat eine Rede ans brasilianische Volk gehalten und seinen Landsleuten versprochen: „Wir können noch viel mehr erreichen.“ Danach folgte allerdings sofort die Einschränkung: „Das können einige andere Teams auch.“
England: Seaman - Mills, Ferdinand, Campbell, Ashley Cole (80. Sheringham) - Beckham, Butt, Scholes, Sinclair (56. Dyer) - Owen (79. Vassell), Heskey Brasilien: Marcos - Lucio, Roque Junior, Edmilson - Cafu, Gilberto Silva, Kleberson, Ronaldinho, Roberto Carlos - Rivaldo, Ronaldo (70. Edilson)Schiedsrichter: Ramos Rizo (Mexiko)Zuschauer: 47.436;Tore: 1:0 Owen (23.), 1:1 Rivaldo (45.), 1:2 Ronaldinho (50.) Rote Karte: Ronaldinho (57.)
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