Drei Berufszeichner erzählen: Mehr Sein als Schein
Zeichner liefern heute einen ganz anderen Zugang zur Wirklichkeit als Fotografen - und im Zeitalter der digitalen Bildbearbeitung bekommen Skizzen auch eine ganz eigene Glaubwürdigkeit.
Ausgerechnet am Grabe Michelangelos fingen sie wieder an zu streiten. Bildhauer, Maler, Architekten, sie alle beharrten darauf: Unter den Künsten sei ihre Zunft besser als die der anderen. Michelangelo war ein Meister in allen Sparten, es war daher nicht leicht, zu entscheiden, welche Kunstgattung bei seiner Beerdigung besonders zu würdigen sei.
Der Streit, in den sich die italienischen Künstler verbissen hatten, ging als "Paragone", als "Wettstreit der Künste", in die Geschichte ein. Als der Meister 1564 starb, züngelte der Konflikt bereits seit 20 Jahren. Aber immerhin hatte die Auseinandersetzung um die Begräbnisfeierlichkeiten auch etwas Gutes: Der "Paragone" wurde salomonisch gelöst. Der Urvater der Kunstgeschichte. Giorgio Vasari, beantwortete die ewige Frage, welche Kunst die Realität am besten abbilde. Er entschied, dass "Disegno" der Vater aller Künste sei. "Disegno" bezeichnet zum einen das mentale Bild, die platonische Idee, die dem Kunstwerk notwendig vorausgeht; zum anderen ist "Disegno" aber auch die Vorstudie, der schnell zu Papier gebrachte Gedanke, die Skizze. Immer geprägt von der unmittelbaren Verbindung zum Original in 3-D.
Seit Erfindung der Fotografie schien der Wettkampf ein für alle Mal geklärt. Das Foto demonstrierte unmittelbare Augenzeugenschaft. "So ist es gewesen", besagte jenes Medium, wie der französische Philosoph Roland Barthes in seinem Aufsatz "Die helle Kammer" formulierte. Nun, im digitalen Zeitalter, kann man dieser Unmittelbarkeit nicht mehr trauen. Früher galt: "What you see is what you get", um mal mit den Worten von Popsternchen Britney Spears zu sprechen. Heute muss die Schauspielerin Kate Winslet lautstark darauf beharren, dass sie echt so aussieht wie auf dem Cover von Vanity Fair - und nicht dank Fotoshop.
Wieder lautet also die zentrale Frage: Welche der Künste kann die Wirklichkeit so reproduzieren, dass das Abbild Echtheit suggeriert? Dass gerade die Zeichnung das ständige Verlangen nach Realitätsnähe befriedigen kann, wussten schon die Paragonisten im 16. Jahrhundert. Über vier Jahrhunderte nach Michelangelos Tod könnten die Zeichner daher Repräsentanten einer neuen Authentizitätsbewegung werden. Drei von ihnen stehen für die dokumentarische Abteilung jener Berufsgruppe: Rainer Ullrich, Expeditionszeichner; Petra Kleinwächter, anatomische Zeichnerin; Martin Burkhardt, Gerichtszeichner. Alle drei berichten aus der Fremde, sind als Bildreporter in unbekannten Welten unterwegs. Wie früher, vor Erfindung der Fotografie: Arktis, menschliche Innereien und Gerichtssäle bekommen wir in der Regel nicht direkt zu Gesicht.
"Ich denke mit der Hand", sagt Rainer Ullrich, während er die dicht gefüllten Seiten eines seiner Notizbücher durchblättert. "Der direkte Zugang zur Realität steht bei meiner Arbeit im Vordergrund. Das ist wie Schreiben." Drei Monate schipperte er mit Arved Fuchs durch die Nordostpassage, einen Monat lang begleitete er den Abenteurer nach Grönland, und dann waren da noch die zwei Wochen den Amazonas runter.
Ullrichs berufliche Vorfahren - wie Georg Forster, der mit James Cook um die Welt segelte - waren anderen Strapazen ausgesetzt. Und es ging damals um Entdeckertum im eigentlichen Sinne. Unbekannte Pflanzen, seltsame Tiere mussten akribisch festgehalten werden, detailversessen hatten die Zeichnungen zu sein. Sie waren die einzigen Beweise für das Noch-nie-Gesehene. Er sei eher "Chronist", betont Ullrich. "Ich bin gar nicht auf der Suche nach einem Motiv. Ich setze mich einfach irgendwohin, der Rest kommt von allein."
Wenn er zeichnet, das handliche schwarze Notizbuch umklammert, bewegt sich der Fineliner unablässig übers feste Papier. "Mehrere Sekunden fasse ich in einem Bild zusammen. Ich weiß: Es ist eine Gegend, in die ich nicht mehr komme", sagt Ullrich. "Die Szene ist verloren, wenn wir daran vorbeigefahren sind." Dialoge protokolliert er gleich mit ins Bild. Die Unwiederholbarkeit schlägt sich in Ullrichs Stil nieder: "8.30 Uhr" steht über einer Szene, dann "9.00", "9.10"; die Annäherung an die Küste ist fotoseriengleich, Hafenkräne werden immer größer. Gezeichnete Routenkarten und Kompasse helfen, sich in der abgebildeten Realität zu orientieren. Und überall Linien, Striche, Punkte: Der Zeichenvorgang wird hier nicht kaschiert, die Spuren des Filzers verweisen sofort auf Ullrichs Arbeitssituation. Bei Böen, Wellengang und zu viel Wodka in russischen Seemannskneipen werden die Bilder unruhiger, ungenauer. Das Erlebte schreibt sich in die Zeichnungen ein.
Petra Kleinwächters Haltung zum Objekt ist zwangsläufig neutraler. Wenn sich die Bauchdecke eines Patienten vor ihren Augen öffnet und sie freie Sicht auf organisches Durcheinander in Rot-Rot hat, beginnt ihre Arbeit. Sie muss schaffen, was kein Foto leisten könnte: Sie muss die komplexe Realität einer bluttriefenden Operation in eine realitätsgetreue Zeichnung überführen. Schon bei ihrem Urahn Leonardo da Vinci galt es, festzuhalten, was sonst nur im Verborgenen existierte: Herzkreislauf, Muskelfasern, Knochenpositionen. Denn erst der verständnisvolle Blick des Zeichners auf das menschliche Innenleben macht die Lehre von der Anatomie - wörtlich: "Aufschneiden" - möglich. "Man muss abstrahieren", sagt Kleinwächter. "Die Zeichnungen sind nötig, damit die Studenten lernen, in diesem Matsch überhaupt etwas zu sehen." Was ist Fettgewebe, an welcher Stelle ragt die Stahlschraube in den Knochen, wo wird geschnitten, und wie wieder zugenäht: Anders als bei der Arbeit der heutigen Expeditions- oder Gerichtszeichner hängt bei der Petra Kleinwächters sehr viel davon ab, dass jedes Detail ihrer Bilder stimmt. Wenn sie im OP-Saal steht und die Chirurgen beobachtet, greift sie daher schon einmal zur Kamera. Ihre richtigen Zeichnungen entstehen erst hinterher, auf der Basis der Fotos. Die Zeichnung, so viel ist klar, ist hier der Fotografie haushoch überlegen.
Hautnah dabei zu sein ist auch bei Martin Burkhardts Arbeit wesentlich. Gewappnet mit einem Block, schwarzem Feinzeichner und Aquarellfarben, sitzt er seit 2003 in Gerichtsverhandlungen, zu denen die Öffentlichkeit keinen Zugang hat. Es gibt kein Bildmaterial aus diesen Sitzungen, keine Fotos, keine Filmaufnahmen - nur das, was die Besucher als Augenzeugen wahrnehmen. "Ich sehe mich nicht als Künstler", sagt Burkhardt, in erster Linie sei er Dokumentarist.
Meist sucht sich der Diplomgrafiker einen Platz in der ersten Reihe ganz außen. Das garantiert ihm den besten Blick. "Ich muss meine Eindrücke erst einmal abspeichern", sagt Burkhardt, "das Ergebnis ist eine Momentaufnahme, die vielleicht eine halbe Stunde abdeckt." Es muss schnell gehen, ähnlich wie bei Ullrichs Expeditionen. Er sieht den Angeklagten im Halbprofil, die ratlosen Gesichter auf der Richterbank, das baden-württembergische Wappen an der Wand, die Beine des Protagonisten, wenn sie mit Fußfesseln aneinandergekettet sind. "Viele Details sind unwichtig. Ich versuche, das Typische zu zeichnen. Das heißt auch, dass ich etwa markante Aspekte übertreibe, ähnlich wie bei einer Karikatur." Die Auftraggeber des 27-Jährigen sind meist Fernsehsender, die über die Prozesse berichten. Sie filmen Burkhardts Zeichnungen ab - ihre einzige Möglichkeit, die Beiträge zu bebildern. Gerade hat Burkhardt ein anderes Projekt abgeschlossen: Er bildete die Gebäude einer Straße ab, Haus für Haus - die Kamera schaffte es nicht, jede Fassade komplett in den Fokus zu nehmen.
Dokumentarische Zeichner sind, wie Fotografen, stets Augenzeugen. Sie liefern einen Zugang zur Realität mit einer authentischen Wucht, die früher nur Fotos zu leisten vermochten. Denn egal ob eine Zeichnung eine Fahrt durchs arktische Meer zeigt, den Blick in menschliche Eingeweide oder eine Gerichtsverhandlung - immer ist klar: Da war einer, der diesen Moment beobachtet hat. Und der das Wahrgenommene in ein Bilddokument übersetzt hat. Dank ihres unmittelbaren Charakters sind Zeichnungen ein Hinweis auf vergangene Realität: Seht her, so ist es gewesen.
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