Drastische Methoden in China: Drill gegen Internetsucht
Chinesische Entzugskliniken, die verzweifelten Eltern Hilfe versprechen, greifen oft zu drastischen Mitteln. Elektroschocks wurden inzwischen verboten.
Eines Abends holte Schulrektor Wang seinen Sohn vom Computer weg, nach wenigen Minuten saß die Familie im Auto nach Peking. "Ich dachte zuerst, sie wollten mich wieder mal zum Psychiater bringen", erinnert sich Wang Wen (18). "Das kannte ich schon." Doch am Rand der Hauptstadt hielt der Wagen auf einem Armeegelände vor einem Wohnheim an: "Abteilung für Internet-Sucht" des Pekinger Allgemeinen Militärkrankenhauses.
"Am liebsten hätte ich damals alles zerschlagen", sagt er zwei Monate später über seinen ersten Behandlungstag: "Ich habe die ganze Welt gehasst, vor allem meine Eltern." Endstation Internetentzug: Wie Wang Wen landen mittlerweile jährlich tausende chinesische Kinder und Jugendliche in Kliniken und Camps, die sich auf die neueste Variante der Suchtkrankheiten spezialisiert haben - dem Drang, von morgens bis abends am Computerspiele zu spielen.
Wie verbreitet die Internetentzugscamps im ganzen Land inzwischen sind und mit welch drastischen Mitteln manche von ihnen arbeiten, haben Chinas Medien aufgedeckt. Aufsehen erregte der Fall des 15-jährigen Deng Senshan. Er starb in einem Entzugscamp in der Südwestprovinz Guangxi, wenige Stunden nachdem sein Vater ihn dort abgeliefert hatte. Deng brach beim Dauerlaufdrill zusammen. Offenbar wurde er von Mitarbeitern geschlagen - bis er sich nicht mehr regte.
Anderswo warb eine Klinik mit den Erfolgen ihrer Elektroschocks. Doch diese Behandlung löste eine Debatte aus. Schließlich verboten die Behörden Elektroschocks für Internetsüchtige. Tao Ran von der Internet-Suchtabteilung des Pekinger Militärkrankenhauses hält von solchen Zwangsmethoden gar nichts. In seinem Haus halte man sich an erprobte Suchttherapien, zu denen nicht nur Sport und gewöhnlicher Schulunterricht, sondern auch Gruppen- und Einzelgespräche gehören, erklärt der 48-Jährige. Ursprünglich hatte sich der Arzt und Psychologe auf die Behandlung Alkohol- und Drogenabhängiger spezialisiert. Doch seit 2004 behandelt er Internetsüchtige, derzeit sind es 50. Die meisten bleiben drei Monate. Sie wohnen in Viererzimmern. Wachpersonal kontrolliert den Zugang zu den Stockwerken.
Insgesamt 5.000 Internetsüchtige hat Direktor Tao mittlerweile behandelt und gehört damit zu den Pionieren einer Zunft, die in China noch um Anerkennung ringt. Dazu zählen seriöse Therapeuten ebenso wie Scharlatane, die mit der Sorge der Eltern schnell Geld verdienen wollen. Eine offiziell akzeptierte Definition davon, was "Internetabhängigkeit" genau ist, gibt es nicht. Das hindert Chinas Medien nicht daran, immer neue Statistiken und Umfragen zu veröffentlichen: "Über 24 Millionen" junge Leute in China seien abhängig, hieß es zuletzt.
"Fast all unsere Patienten sind Schüler zwischen 15 und 19 Jahren, 90 Prozent davon sind Jungen", berichtet Tao. Die meisten werden von den Eltern abgeliefert, nachdem ihre Noten zu sehr absackten. Tao: "Die Kinder sind einsam, introvertiert, haben keine Freunde, keine Hobbys und kein Selbstvertrauen. Ihre Eltern wissen weder ein noch aus." Manche Jugendlichen würden bei Computerverbot aggressiv.
Hinter ihrem Unglück stecke aber mehr: Der geballte Druck von Schule und Elternhaus, der den Kindern keine Luft lässt und sie in die Parallelwelten der Netzspiele treibt. So versucht Tao auch die Eltern in die Therapie einzubeziehen. Zehntausend Yuan (rund 1.000 Euro) kostet die Dreimonatstherapie für die ganze Familie, Unterkunft inklusive. Das ist nicht gerade billig - aber für Familien der neuen Mittelschicht erschwinglich.
Wang Wen hat noch wenige Wochen, bis er wieder nach Hause darf. Er glaubt inzwischen, dass er es schaffen könnte, der Verlockung der Onlinespiele zu widerstehen. Nach der Klinik will er sich ein Hobby suchen, Trompete spielen oder vielleicht Kampfsport. "Und dann will ich studieren, ganz sicher." Manchmal träumt er von seiner Zeit in der "World of Warcraft" und seiner zweiten Existenz als Krieger, in der er sich so wohlfühlte. "Im Internet hatte ich viele Bewunderer", sagt er stolz, "ich war wirklich sehr, sehr gut."
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