■ Dokumentation: Papstbrief in Auszügen
„[...] 7. Was nun die Frage der Beratungsbescheinigung betrifft, möchte ich wiederholen, was ich Euch schon im Brief vom 21. September 1995 geschrieben habe: ,Sie bestätigt, daß eine Beratung stattgefunden hat, ist aber zugleich ein notwendiges Dokument für die straffreie Abtreibung in den ersten zwölf Wochen der Schwangerschaft.‘ Ihr selber habt diese widersprüchliche Bedeutung des Beratungsscheins, die im Gesetz verankert ist, mehrmals als ,Dilemma‘ bezeichnet. Das ,Dilemma‘ besteht darin, daß die Bescheinigung die Beratung zugunsten des Lebensschutzes bestätigt, aber zugleich die notwendige Bedingung für die straffreie Durchführung der Abtreibung bleibt, auch wenn sie gewiß nicht deren entscheidende Ursache ist. [...]
Die katholischen Beraterinnen und die Kirche (...) geraten dadurch in eine Situation, die mit ihrer Grundauffassung in der Frage des Lebensschutzes und dem Ziel ihrer Beratung in Konflikt steht. Gegen ihre Absicht werden sie in den Vollzug eines Gesetzes verwickelt, der zur Tötung unschuldiger Menschen führt und vielen zum Ärgernis gereicht.
Nach gründlicher Abwägung aller Argumente kann ich mich der Auffassung nicht entziehen, daß hier eine Zweideutigkeit besteht, welche die Klarheit und Entschiedenheit des Zeugnisses der Kirche und ihrer Beratungsstellen verdunkelt. Deshalb möchte ich Euch, liebe Brüder, eindringlich bitten, Wege zu finden, daß ein Schein solcher Art in den kirchlichen oder der Kirche zugeordneten Beratungsstellen nicht mehr ausgestellt wird. Ich ersuche Euch aber, dies so zu tun, daß die Kirche (...) in der Beratung der hilfesuchenden Frauen präsent bleibt.
8. [...] Schon seit langem (...) ist von vielen Seiten, auch von Menschen, die sich für die Kirche und in der Kirche einsetzen, nachdrücklich vor einem solchen Entscheid gewarnt worden, der die Frauen in Konfliktsituationen ohne den Beistand der Glaubensgemeinschaft lasse. Ebenso ist freilich auch von gläubigen Menschen aller Schichten und Stände angemahnt worden, daß der Schein die Kirche in die Tötung unschuldiger Kinder verwickelt und ihren unbedingten Widerspruch gegen die Abtreibung weniger glaubwürdig macht.
Ich habe beide Stimmen sehr ernst genommen und respektiere die leidenschaftliche Suche nach dem rechten Weg der Kirche in dieser wichtigen Sache auf beiden Seiten, fühle mich aber um der Würde des Lebens willen gedrängt, die oben dargelegte Bitte an Euch zu richten. Zugleich anerkenne ich, daß die Kirche sich ihrer öffentlichen Verantwortung nicht entziehen kann, am allerwenigsten da, wo es um das Leben und die Würde des Menschen geht, den Gott geschaffen und für den Christus gelitten hat.
Das Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetz bietet viele Möglichkeiten, um in der Beratung präsent zu bleiben; die Präsenz der Kirche darf letztlich nicht vom Angebot des Scheins abhängen. Nicht nur der Zwang einer gesetzlichen Vorschrift darf es sein, der die Frauen zu den kirchlichen Beratungsstellen führt, sondern vor allem die sachliche Kompetenz, die menschliche Zuwendung und die Bereitschaft zu konkreter Hilfe, die darin anzutreffen sind. Ich vertraue darauf, daß Ihr mit den vielfältigen Möglichkeiten Eurer Institutionen und Eurer Organisationen, mit dem reichen Potential an intellektuellen Kräften wie an Innovationsfähigkeit und Kreativität Wege finden werdet, die Präsenz der Kirche in der Beratung nicht nur nicht vermindern zu lassen, sondern noch zu verstärken. Ich bin davon überzeugt, daß Ihr in der geistigen Auseinandersetzung, die in der Gesellschaft Eures Landes bereits stattfindet und die nun folgen wird, alle Eure Kräfte mobilisieren könnt, um den Weg der Kirche nach innen und nach außen verständlich zu machen, so daß er auch dort wenigstens Respekt findet, wo man nicht glaubt, ihn billigen zu können.
Daß die Kirche den Weg des Gesetzgebers in einem konkreten Punkt nicht mitgehen kann, wird ein Zeichen sein, das gerade im Widerspruch zur Schärfung des öffentlichen Gewissens beiträgt und damit letztlich auch dem Wohl des Staates dient. [...]
Wenn die Kirche die Achtung vor dem Recht auf Leben jedes unschuldigen Menschen – von der Empfängnis bis zu seinem natürlichen Tod – zu einer der Säulen erklärt, auf die sich jede bürgerliche Gesellschaft stützt, ,will sie lediglich einen humanen Staat fördern. Einen Staat, der die Verteidigung der Grundrechte der menschlichen Person, besonders der schwächsten, als seine vorrangige Pflicht anerkennt' (Evangelium Vitae, Nr. 101). [...]
Aus dem Vatikan, 11. Januar 98,
Johannes Paulus II.“
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